Der Schein trügt - Teil 1
von Ann-Katrin Kinzl
Prolog
Die ebenso schöne wie auch nervöse junge Frau lief aufgeregt im Garten umher, als ob sie einen Geist gesehen hätte. Hin und wieder hielt sie inne, um ein verwelktes Blatt von ihren innig geliebten Rosensträuchern zu zupfen oder um ein Steinchen im Gras wieder auf den Kiesweg zu schieben. Sie schien hektisch und nahezu verstört und eine Person, wie diejenige, die hinter der Rosenhecke stand, die ihr Verhalten genau analysierte und beobachtete, konnte erkennen, dass eben diese Frau ein Problem plagte, das nicht nur durch Auszupfen eines Blättchens oder Ordnen eines Tischdeckchens gelöst werden konnte.
Jane Hemmingway, so hieß jene Frau, lebte zurückgezogen und prahlte nicht mit ihrem beträchtlichen Vermögen. Sie war 39 Jahre alt und schon seit längerer Zeit verwitwet.
Ihre große Leidenschaft war ihr prachtvoll gepflegter Garten, der sie zeitlebens über ihre unglückliche und kinderlose Ehe hinwegtröstete.
Für die Leute im Dorf war sie eine ganz bodenständige Frau, attraktiv und alleinstehend und immer von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Doch nur wenige ahnten wie groß dieses Geheimnis war und wie sehr es das Leben in ihrem kleinen Dorf erschüttern würde, wenn es schließlich ans Tageslicht kommen würde.
An diesem schönen und heißen Sommermorgen im Jahr 1934 ließ nichts darauf schließen, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Jane Hemmingway sterben müsste.
Und doch stand nun hinter den Rosenbüschen ein Mitwisser von der entsetzlichen Schuld, die sie vor vielen Jahren kaltblütig auf sich geladen hatte.
Mit seiner schweißnassen Hand umklammerte er den Revolver in seiner rechten Manteltasche und wollte gerade aus dem Schatten der Büsche heraustreten, als er eine vermummte Gestalt über den Rasen rennen sah. Die Gestalt umklammerte die Frau fest am Arm und zerrte sie direkt vor das Grab ihres verstorbenen Mannes, unter eine dicht belaubte Eiche. Was nun geschah war für den jungen Mann hinter der Hecke nur aus den Schwarz-Weiß-Filmen in den Londoner Kinos bekannt. Die Frau wurde brutal geschüttelt und ein lautstarker Streit entflammte. Die fremde Person schlug ihr mit der Hand ins Gesicht, verzweifelt versuchte sie sich zu befreien, schrie nach Hilfe, wollte fliehen. Der heimliche Beobachter konnte von dem Streit nur einige wenige Wortfetzen hören, doch es war ihm klar, dass dieser Streit auf etwas hinauslaufen würde, dass er sich weder vorstellen wollte, noch konnte. Immer wieder fielen die Wörter "Lügnerin", "Mord" und "vergessen".
Der Angreifer wurde immer brutaler und lauter. Schließlich packte er eine der engelhaften Marmorfiguren von George Hemmingways Grab und schlug Jane damit heftig auf den Kopf. Sie taumelte, hörte auf zu schreien und schlug hart auf dem Boden auf. Blut lief aus ihrem Ohr. Röchelnd rang sie um Luft, während der Eindringling ihr noch einen letzten geringschätzigen Blick zuwarf. Schließlich entfernte er sich mit schnellen Schritten in Richtung des Hauses.
Sobald er nicht mehr zu sehen war, lief der bisher stumme Augenzeuge zu der verletzten und stark blutenden Frau. Ihre blauen Augen blickten starr in seine grünen. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch es war zu spät. Ihr Körper verkrampfte sich und zuckte noch einige Male.
Schließlich blieb sie regungslos und ohne Atem liegen.
Langsam rappelte sich der junge Mann auf seine Beine. Sein Hemd war blutverschmiert und er blickte verstört. Seine Beine wackelten, weshalb es ihm schwer fiel sich auf den Beinen zu halten. Die beschmierte Marmorfigur lag noch immer auf dem Boden. Er hob sie behutsam auf, nicht ahnend, dass er in eben diesem Moment von Mary Higgins, der örtlichen Schneiderin mit schreckgeweiteten Augen beobachtet wurde.
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Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 5. Juli 2010