Jugend und Parlament 2009
Planspiel: Für vier Tage schlüpfen Jugendliche in die Rolle von (fiktiven) Abgeordneten. Ein Erfahrungsbericht von missmarie.
Nahe des Berliner Hauptbahnhofes, circa 10 Minuten Fußweg entfernt, liegt das Paul-Löbe-Haus. Am 14. Juni 2009 war dieses Haus Anlaufstelle für 307 Jugendliche aus der gesamten Bundesrepublik. Gegen Mittag konnten Vorbeigehende eine stetig wachsende Gruppe Jugendlicher mit ihren Koffern vor genau diesem Gebäude stehen sehen. Eines unterschied diese Gruppe aber von den vielen Touristen rund um den Deutschen Bundestag – ihre Kleidung. Überwiegend Anzug tragende Jungen und Kostüm tragende Mädchen waren anzutreffen. Jugend und Parlament 2009 hatte begonnen.
VierTage Abgeordnete sein
Bei diesem Planspiel geht es darum, Politik möglichst hautnah zu erleben. Für vier Tage schlüpfen die Jugendlichen in die Rolle von (fiktiven) Abgeordneten. Auf dem Programm findet sich alles von der Landesgruppensitzung bis hin zur Plenarsitzung. Wir im „echten“ Leben gibt es auch bei Jugend und Parlament Parteien. Diese sind allerdings fiktiv. Jedoch lassen sich Parallelen zu „richtigen“ Parteien ziehen. So ist die „Ökologisch Soziale Partei“ eine umweltorientierte Oppositionspartei und die „Konservative Volkspartei“ hat die Mehrzahl der Sitze inne. Gleichzeitig bildet sie mit der „Arbeiter Partei Deutschland“ die Koalition. Doch nicht nur fraktionstechnisch geht es zu wie in der Wirklichkeit. In vier Tagen gilt es, Gesetzesvorschläge zu bearbeiten. Die Themen: Gerechtes Rentensystem, Volksentscheide im Bundestag, Einsatz von Biokraftstoff und Bundeswehreinsatz im (fiktiven) Orinokien.
Neue Identität und ein Überraschungsparteibuch
Ich durfte dieses Jahr dabei sein. In Mitten andere besagter Jugendlicher diskutierte sich schon heiß, wem wohl welche Partei zugeteilt wurde. Beim Betreten des Paul-Löbe-Hauses wurde das große Geheimnis gelüftet. Jeder Spieler erhielt nicht nur eine Parteizugehörigkeit, sondern auch einen komplett neuen Namen und Lebenslauf. Da wurde der eine schon mal zum ehemaligen Zirkusdirektor oder Richter. Ich brauchte ein wenig Zeit, um mich mit meiner Rolle anzufreunden, während andere voll in ihrem „neuen“ Leben aufgingen. Bei Schokoriegeln und Bananen wurden dann die Parteikollegen kennen gelernt. Schließlich fand man sich auf der Fraktionsebene des Bundestages ein. Wie die echten Politiker auch hielten wir Fraktions- und Landesgruppensitzungen in den Räumen unser „Schwesterparteien“ ab. Auch das Grußwort Gerda Hasselfelds fehlte nicht. Die Zeit verflog, sodass der Weg zum Hostel schnell bevorstand. Eine große Hürde im Angesicht von mehr als 300 Jugendlichen, die alle mit der selben Straßenbahn fahren wollen. So schlängelte sich die Reihe aus Koffern und Menschen lustig durch das abendliche Berlin.
Harte Arbeit und Erlebnisse über den Dächern von Berlin
Am nächsten Tag stand harte Arbeit auf dem Programm. Es galt in den Landesgruppen die richtigen Strategien zu den Gesetzesvorschlägen zu erarbeiten. Mit welchem Kompromiss könnte man die Gegenseite ködern? Was überzeugt mehr? Wo kann man selbst Eingeständnisse machen ohne das eigene Programm aus den Augen zu verlieren? Auch in der Fraktionssitzung wurde wieder heiß diskutiert bis gegen Mittag endlich ein Anfang zu Papier gebracht war. Die Mittagspause war verbunden mit einer etwas anderen Stadtrundfahrt durch die Hauptstadt. Kreuzberg war für viele eine angenehme Abwechslung zu den Fraktionszimmern. Doch schnell kehrten wir an die Arbeit zurück. Wie bei Merkel, Steinmeier und Co. war auch unsere Freizeit eher begrenzt. Stolz konnten wir gegen Abend auf eine ausgearbeitete Strategie und Argumentationskette blicken. Tatsächlich blieb nach dem Essen noch Zeit für einen Gang auf die gläserne Kuppel des Bundestags. Der Blick über Berlin in der Dämmerung war ein Erlebnis für sich.
Heiße Diskussionen und hoher Besuch
Der nächste Tag brachte heiße Diskussionen und hohen Besuch mit sich. Zunächst trafen die einzelnen Parteien erstmals auf die Meinung der anderen. Es galt der eigenen Einstellung treu zu bleiben und gleichzeitig kompromissfähige Politik zu machen. Hier wurden alle eines Besseren belehrt, die Politiker als ein Lügner bezeichnen. Es ist nämlich nicht leicht, die Wahlversprechen auch in die Tat umzusetzen. Das wurde mir auch beim Besuch mit meinem einladenden Bundestagsabgeordneten deutlich. Zwar war dieser selbst nicht anzutreffen, doch sein Mitarbeiter stellte sich meinen Fragen. Da wurde deutliche, dass man vor der Wahl das Maximum, die Wunschvorstellung beschreibt. Man geht sozusagen nach dem Parteiprogramm. Da unser Land aber (glücklicherweise) auf einer Demokratie beruht, ist es kaum möglich diese Extreme auch in die Tat umzusetzen. „Politik muss Kompromisse eingehen um das beste für das Land hervorzubringen“, so mein Gegenüber. Gleichzeitig erhielt ich einen spannenden Einblick in die Arbeit eines Abgeordnete. Neben vielen Besuchen und Debatten, muss ein Mitglied des Bundestags auch immer „up to date“ sein. Dafür gibt es in jedem Büro einen eigenen Newsticker und Mitarbeiter die sich um eingehende Meldungen kümmern. Diese sortieren, was wirklich wichtig für den jeweiligen Politiker ist. Denn jeder Abgeordnete hat ein „Spezialgebiet“. So braucht jemand, der sich für Innere Verteidigung einsetzte, genauern keine Informationen über Familienpolitik. Wie man dann über ein „gebietfremdes“ Thema abstimmen kann, lautete meine Frage. Die Antwort war gleichermaßen simpel wie logisch. In jeder Partei gibt es für ein Gebiet Experten. Diese können das Thema erklären. Auch Pro und Contra aus parteipolitischer Sicht kann von Kollegen erörtert werden. Nach diesem Besuch ließen alle Teilnehmer gemeinsam den Abend ausklingen.
Wie in echten Plenardebatten
Der 17. Juni war gleichzeitig auch der letzte Tag, wie einige Teilnehmer betrübt beim Frühstück feststellten. Heute stand allerdings der Höhepunkt auf dem Programm, die Plenardebatte. Überall traf man an diesem Morgen auf verzweifelte Jugendliche, die in letzter Minute an ihrer Rede feilten. Kurze Zeit später saßen alle im Plenarsaal. In diesem Raum dürfen normalerweise nur Politiker sitzen, also war das schon ein Ereignis. Die nächsten drei Stunden waren mit Plenardebatten gefüllt, sozusagen das Ergebnis langer Arbeit. Wer glaubt, die Debatte wäre vergleichbar mit einem Referatvortrag hat sich getäuscht. Da gibt es Zwischenrufe, stichelnde Bemerkungen und auch mal die ein oder andere Beleidigung. Ab und an muss der Präsident oder die Präsidentin gar einschreiten. Der ein oder andere Besucher muss wohl zeitweise ein ganz schönes Chaos aus Zwischenrufen und Kommentaren erlebt haben. Nachdem wir Politik gemacht haben (natürlich - wie im echten Leben - brauchten wir viel länger, als es die Tagesordnung zuließ) kamen die „echten“ Politiker zu Besuch. Gemeinsam mit Parteivorsitzenden diskutierten wir über den Werdegang in der Politik sowie Engagement und Bildungspolitik. Die Zeit flog nur so dahin und nach einigen Erinnerungsfotos fanden wir uns alle samt Koffer am Ausgang wieder. Mit Tränen im ein oder anderen Auge und vielen Adressen im Gepäck verabschiedete man sich. Doch bereits auf dem Heimweg wurden schon erste Überlegungen zu einem Nachtreffen angestellt.
Ein Leben für den deutschen Staat?
Ob ich nun Politikerin werden möchte, wurde ich gefragt. Ich bin mir nicht sicher. Der Beruf ist aufregend, abwechslungsreich und interessant. Gleichzeitig ist das Abgeordnetenleben arbeitsintensiv und einnehmend. Ob ich tatsächlich mein Leben so sehr dem deutschen Staat widmen möchte, weiß ich noch nicht. Dass ich mich für die Demokratie einsetzen möchte, habe ich jedoch schon entschieden.
Zum nächsten Jahres-Ereignis
Autorin / Autor: missmarie - Stand: 3. August 2009