Obwohl mich Filme, die in mir starke Gefühle auslösen, normalerweise eher zu Frustrationsattacken inspirieren, muss ich diesmal zugeben: „Das Mädchen Wadjda“ ist ein in Film gegossener Meilenstein. Der erste in Saudi-Arabien gedrehte Film mit vollständig saudischer Besetzung, der erste saudische Film, der von einer Frau (Regisseurin Haifaa al-Mansour) gedreht wurde, und, obwohl auf dieser Welt an großartigen Filmen Gott sei Dank kein Mangel herrscht, hands down einer der besten Filme, die ich in den letzten Jahren (vielleicht jemals) gesehen habe.
Zugegeben, auf den ersten Blick wollte mich die Handlung – ein Mädchen jagt seinem größten Traum, einem Fahrrad, hinterher – nicht vom Hocker reißen. Schön und gut, die Tatsache, dass Fahrradfahren in Saudi-Arabien für Mädchen (und Frauen) zur Zeit des Drehs verboten war, versprach, den Film interessanter zu machen, letztendlich aber waren es hauptsächlich die Umstände, unter denen er gedreht wurde, die mich ins Kino zogen. Erst dort wurde ich dann vollständig überzeugt, dass der Film gar kein spektakuläres Erstlingswerk zu sein braucht, um sehenswert zu sein. Großartige Schauspielerinnen und vor allem eine Menge glaubhafter Charaktere, alle mit ihrer eigenen, komplexen Hintergrundgeschichte, machen ihn zu einer Kollage aus Szenen, die herzlich zum Lachen anregen, und solchen, bei denen ich genauso ungehemmt in Tränen ausbrechen musste – obwohl ich sonst nicht zum Weinen im Kino neige.
Die Handlung folgt Wadjda (Waad Mohammed) bei ihrem Versuch, das Geld für ihr Fahrrad zusammenzusparen – zunächst durch mehrere kleine ´Geschäftsideen´, die alle nicht den nötigen Betrag einspielen, und schließlich durch den Versuch, einen Wettbewerb zu gewinnen, bei dem der Schülerin mit dem meisten Wissen über den Koran ein stattliches Preisgeld winkt. Neben den vielen Herausforderungen, denen sie sich dabei zu stellen hat – von Verhandlungen mit dem Spielzeughändler, den sie überzeugt, ihr Fahrrad für sie zu reservieren, bis zu den kleinen Rebellionen und Kompromissen, mit denen sie ihren Schulalltag meistert – thematisiert er aber auch immer wieder die Geschichten der Menschen um sie herum.
Und hier liegt die eigentliche Stärke des Films. Keiner der Charaktere, vom missmutigen Fahrer (Mohammed Zahir), der Wadjdas Mutter jeden Morgen zur Arbeit bringt – Frauen dürfen in Saudi-Arabien nicht Auto fahren – über Wadjdas Mutter (Reem Abdullah) bis hin zur strengen Schulleiterin (Ahd), mit der sie wiederholt in Konflikt gerät, ist einfach nur eindimensional. Der Fahrer ist oft aufbrausend und scheint die Macht zu genießen, die ihm seine Position als selbstständig mobiler Mann in dieser Gesellschaft verschafft – gleichzeitig wird aber klar, dass er durch seinen Status als Immigrant, der seine Familie zurücklassen musste, selbst nicht zu einer privilegierten Schicht gehört. Wadjdas Mutter ist offensichtlich bemüht, ihrem Kind ein glückliches Leben zu ermöglichen, und dabei zuweilen hin- und hergerissen zwischen Normen, die sie verinnerlicht hat oder von außen auferlegt bekommt, und dem Wunsch, ihr weitere Chancen zu ermöglichen. Darüber hinaus kämpft sie mit der Beziehung zu ihrem Mann (Sultan al-Assaf), dessen Mutter ihn dazu drängt, sich eine zweite Frau zu nehmen, da Wadjdas Mutter bisher keinen Sohn bekommen hat. Und selbst die Schulleiterin, die streng darauf achtet, dass ihre Schützlinge sich ´angemessen´ verhalten, scheint nicht komplett in dem System aufzugehen, in dem sie lebt.
Also ein durch und durch kritischer Film? Nicht ganz. Sicher, der Film ist kritisch – im besten Sinne. Aber er zeichnet kein durch und durch negatives Bild, und zeigt keine Situation, in der Auflehnung die einzige Möglichkeit ist, sich zu verwirklichen. Seit Beginn meines Islamwissenschafts-Studiums hatte ich mehr Gelegenheit (und Motivation) als je zuvor, Filme zu sehen, die in Ägypten, im Libanon und Afghanistan, in der Türkei, im Iran und vielen anderen Ländern spielen und gedreht wurden, die ich aus irgendeinem Grund als mit meinem Studienfach verbunden ansehe, für die es aber keinen einheitlichen Begriff gibt. Da ist zwar das immer noch präsente Wort ´Orient´, das aber eine Einheit suggeriert, die so nicht existiert. Für den Augenblick gebe ich mich mit ´mehrheitlich muslimischen Ländern´ zufrieden, obwohl auch das nicht ganz passt, weil die Menschen in diesen Ländern zwar oft vom muslimischen Erbe ihrer Heimat geprägt sind, aber noch viele andere, ebenso starke, Einflüsse in sich vereinen. Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Die Filme, die ich überwiegend zu sehen bekomme, lassen sich recht einfach in zwei Kategorien einteilen: Sie stellen eine Krise dar, eine Revolte (´The Green Wave´, ´Microphone´), oder sie zeigen ein romantisches, ´orientalisches´ Bild (´Cairo Times´, ´Huhn mit Pflaumen´). Das muss nicht heißen, dass diese Filme schlecht sind – viele sind großartig, mit Ausnahme vielleicht von ´Cairo Times´. Aber das Schema scheint zu einfach, und dass „Wadjda“ einer der Filme ist, die es durchbrechen, macht ihn zu einem wahren Schatz.
Damit will ich nicht sagen, dass er absolut keine problematischen Seiten hat. Dass Wadjdas Selbstverwirklichung sich überwiegend in ´westlichen´ Gesten äußert (englisch bedruckte T-Shirts, Converse-Schuhe, amerikanische Popmusik) ist im Kontext ihrer Geschichte verständlich. Ich bin außerdem die Erste, die dafür plädiert, das Wort ´westlich´ aus unserem Wortschatz zu streichen: dass ein Mensch, der für eine bestimmte Erfindung verantwortlich ist, in Europa oder Nordamerika saß, heißt noch lange nicht, dass dieses Produkt der Inbegriff einer ´westlichen´ Lebensart ist. Ansonsten müssten wir mit unseren arabischen Zahlen, christlichen Feiertagen und ´Made in Japan´-Elektrogeräten reichlich orientalisch sein. Was mir an dieser Darstellung von Wadjda problematisch erscheint, ist weniger die Tatsache, dass ihr Charakter sich so verhält, als die Befürchtung, wie diese Darstellung aufgenommen werden könnte. Ich habe zu oft miterlebt, wie die Menschen um mich herum die Selbstdarstellung einer muslimischen Frau auf einen einfachen Nenner bringen („Sie muss sehr fortschrittlich/traditionell sein, wenn sie sich so kleidet“), um dabei kein Bauchgrimmen zu bekommen.
Andererseits ist das kein Problem der Figur Wadjda oder der Filmemacherin Haifaa al-Mansour – es ist ein Problem von Menschen, die glauben, sie könnten an ein paar Stücken Stoff einen Charakter festmachen. Weniger entschuldbar finde ich den Umgang des Films mit genormter Schönheit. Die Frauen, die in ihm vorkommen (Männer spielen aufgrund der geschlechtergetrennten Gesellschaft kaum eine Rolle) sind allesamt vergleichsweise jung und schlank, ihr als attraktiv definiertes Aussehen gestattet es ihnen, ihren Körper als ´Kapital´ einzusetzen (sei es in den Bemühungen von Wadjdas Mutter, ihren Mann für sich zu behalten, oder in der ominösen Hintergrundgeschichte der Schulleiterin, die vielleicht, vielleicht auch nicht, einen heimlichen Liebhaber hat). Dass auch Frauen, die keiner konventionellen Schönheitsnorm entsprechen, ihren Körper positiv erleben können, und dass Körperbetontheit und heterosexuelles Begehren nicht im Leben jeder Frau eine Rolle spielen, wird nicht thematisiert. Frauen, auf die diese Lebensentwürfe zutreffen, treten kaum auf. Da gibt es zwar die füllige Freundin von Wadjdas Mutter, aber sie gehört zu den am wenigsten differenzierten Charakteren des Films und scheint mehr eine humoröse Nebenrolle zu spielen. Zu Wadjdas Klasse gehört ein Mädchen, das wegen seines Aussehens von anderen Mädchen gehänselt wird. Aber obwohl sie im Verlauf des Films durch ihre Hochzeit, die in ihr offenbar gemischte Gefühle auslöst, eine komplexere Geschichte verrät, bleibt ihre Darstellung hauptsächlich auf ihre Opferrolle fokussiert.
Trotz dieser Kritikpunkte aber bleibt überwiegende Eindruck erhalten: „Das Mädchen Wadjda“ erzählt mehr als nur eine Geschichte, der Film verleiht einer ganzen Reihe von vielschichtigen Charakteren Ausdruck. Und dafür ist er allemal sehenswert. Also ab ins Kino!
Autorin / Autor: Rebecca - Stand: 12. September 2013