Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Ich weiß nicht, warum ich eine angelehnte Tür schon immer als Einladung empfunden habe. Vielleicht, weil ich einfach eine neugierige Person bin und ein Leben voller perfekter Augenblicke suche. Vielleicht lag es aber in diesem Fall auch einfach daran, dass ich vor einem Haus aus viktorianischer Zeit stand und ich diese Häuser liebe.
Die angelehnte Tür war also eine ziemliche Versuchung für mich. Man musste wahrscheinlich unnormal sein, um einfach in ein fremdes Haus zu gehen, mit der Begründung: "Die Tür war doch angelehnt!" Aber das Haus zog mich einfach in seinen Bann. Und ich musste es einfach von innen sehen. Kaum war ich einen Schritt in das Haus eingetreten, da hörte ich das Weinen. Es war kein normales Weinen - es war pure Verzweiflung. Mein erster Impuls war, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Doch dann siegte die Neugier. Langsam ging ich auf das Geräusch zu. Es kam aus einem der Zimmer, deren Fenster zur Straße rausgingen. Vorsichtig öffnete ich die Zimmertür.
Der Anblick ließ mein Herz schrumpfen. Auf dem Boden saß ein Junge. Er war in sich zusammen gesackt und weinte bitterlich. In der Hand hielt er einen Strick. Mit Schlinge. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund setzte ich mich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er sah mich an. Erst erschrocken, dann wütend. "Was willst du? Einbrecher sind das Letzte, was ich jetzt brauche!" Verwirrt fuhr ich zurück. "Ich... die... die Tür war angelehnt!" Wieder sah er mich an. Dann versuchte er ein schiefes Lachen. Er hielt mir seine Hand hin. "Ich bin Nick!" "Minna!", antwortete ich. Er nickte nur. Ich wusste nicht, ob es besser war ihn in Ruhe zu lassen, oder ob er vielleicht darüber reden wollte. Unentschlossen deutete ich auf die Schlinge und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er schüttelte erst den Kopf. Dann sagte er, fast trotzig: "Du willst wissen, warum? Weil das Leben etwas Furchtbares ist!" Erschrocken sah ich ihn an. Ich wusste nicht, was ich seltsamer fand. Dass ich hier einfach so reingeplatzt war, oder, dass er das Leben furchtbar fand. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wenn er das Leben geliebt hätte, hätte er wohl kaum versucht sich umzubringen. "Ich mach dir einen Vorschlag!", hörte ich mich sagen. "Morgen komm ich dich abholen. Um 10 Uhr. Und dann beweise ich dir, dass das Leben etwas Wunderbares ist!" Er zuckte nur mit den Achseln. "Wenn du nichts Besseres zu tun hast..." "Dann bis Morgen!", ich lächelte ihn an. Und ging.
"Als erstes...", sagte ich "will ich dir den Himmel zeigen!" Nick antwortete nicht. Er schlurfte einfach nur neben mir her. Ich führte ihn in eine kleine Seitenstraße, die kaum befahren war. "Leg dich auf die Straße!", befahl ich ihm. Wir legten uns nebeneinander auf den Boden. "Jetzt schau dir den Himmel an! Siehst du die Wolken? Siehst du dieses unbeschreibliche Blau? Siehst du die Sonne, wie sie versucht, durch die Wolkendecke zu dringen?" Wir lagen eine ganze Weile still da und starrten in den Himmel. Bis Nick sich plötzlich ruckartig aufrichtete. "Auto!", schrie er. Ich sprang auf, er packte mich am Arm und zog mich auf den Bürgersteig. Lachend und keuchend lehnten wir an einer Hauswand, während der Autofahrer hupend an uns vorbei fuhr. In diesem Moment sah ich Nick zum ersten Mal richtig lachen.
"Und jetzt, was willst du mir jetzt zeigen?", fragte Nick. Wir waren an einen See außerhalb der Stadt gefahren. Die Bushaltestelle lag nicht weit entfernt. "Das Wasser!", sagte ich. Dann packte ich ihn ohne Vorwarnung an der Hand und rannte los. Bis wir im Wasser waren. Mit allen Klamotten. Prustend schubste Nick mich weiter in den See hinein. "Weißt du was Minna? Du bist richtig bescheuert!" Er drückte mich unter bis ich mit den Armen zappelte und spritzte mich nass. Empört sah ich ihn an. "Das hast du davon!", sagte er. Aber er lächelte. Im Bus bildeten sich Pfützen unter unseren Sitzen und wir hatten den Busfahrer sogar bestechen müssen, damit er uns überhaupt mitnahm. Aber das war uns egal. Selbst über die Leute, die uns komisch anguckten, konnten wir lachen. Aber als wir wieder in der Stadt waren, wurde Nick ernst. "Ich muss dir auch was zeigen, Minna!", sagte er und zog mich weiter. Er führte mich ins Stadtzentrum. Alles war voller Menschen, die einkauften und einander nicht beachteten. Hektisch von einem Geschäft zum nächsten liefen. Aber Nick ging unbeirrt weiter. Er zog mich zu einer Bank und wir setzten uns. Gegenüber von uns, vor einem Schmuckladen, saß ein Mädchen und bettelte. Sie war bestimmt nicht älter als ich. Neben einer Schale lag ein Pappschild auf dem "Bitte um eine kleine Spende" stand. Plötzlich kam ein Verkäufer aus dem Laden gestürmt. "Was machst du hier? He? Du vertreibst meine Kundschaft!" Erschrocken lief das Mädchen weiter und der erboste Verkäufer ging in seinen Laden zurück. Nick brauchte nichts zu sagen. Ich hatte verstanden, was er meinte. Ich legte dem Mädchen einen Fünfer in die Schale und lächelte. Vielleicht würde das etwas bewirken. Vielleicht alles noch schlimmer machen. Nick war schon vorgegangen. Er brachte mich in eine kleine Gasse und setzte sich mit mir unter ein Fenster. "Hast du sie noch alle?! ICH soll DIR Geld geben? Für ein Geburtstagsgeschenk? Du bist alt genug! Geh und verdien dir welches! Dann hab ich dich wenigstens nicht den ganzen Tag am Hals!" "Ich hasse dich, Papa. Du bist so ein Arschloch! Wenn du Mama schon kein Geschenk kaufst, dann leg wenigstens mit mir für eins zusammen!" Dann war es still. Aber nicht lange. Das Letzte, was wir hörten, war eine schallende Ohrfeige.
Wir saßen im Park. Auf einer Wiese. Nick lächelte und sagte etwas, das ich nie vergessen werde. "Man darf die Tür zum Leben nicht verschließen, aber rausreißen darf man sie auch nicht. Sie muss angelehnt sein.", dann strich er mir das Haar hinters Ohr und gab mir einen langen Kuss. Und ich wusste, es war der perfekte Augenblick.
Autorin / Autor: KaHa, 15 Jahre - Stand: 10. Mai 2010