Kinder der See
Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Plötzlich war er dort. Als wäre er bloß durch eine Tür gegangen, die für das Auge unsichtbar war. Vor ihm erstreckte sich ein steiniger Strand, schwarze Steine und kaltes Meer. Der Himmel war klar. Doch dann fiel sein Blick auf sie.
Noch nie hatte er in seinem Leben etwas Vergleichbares gesehen. Oder gehört. Sie war so übernatürlich schön – und doch saß sie da, das Kind des Meeres. Seine schönste Schöpfung. So unglaublich schön. Er hatte das Gefühl, als schaue er sich ein Bilderbuch an. Ein Märchenbuch. Sie saß immer noch da. Regungslos. Und so unglaublich schön. Sie schaute ihn unverwandt an. Sie starrte nicht. Sie blickte nur neugierig zu ihm herüber. Und sang. So schön. Er erwiderte ihre Blicke. Konnte sich gar nicht an ihr sattsehen. Konnte es kaum glauben. Aber er traute sich nicht, zu ihr herüber zu waten, in der Angst es sei doch nur ein Trugbild, und sobald er seine Hände nach ihr ausstrecke, würde sie verblassen.
Sie saß da, aufrecht und nackt auf dem Stein. Der Stein, der aus allen anderen herausragte. Und sie thronte auf ihm. Ihre Haut glänzte vom Wasser. Ihr Haar fiel in nassen Strähnen auf ihren Körper und umrahmte ihr Gesicht. Ihre Augen waren so dunkel, wie die See bei einem wilden Sturm. Die Lippen, so wohlgeformt und sinnlich, aus denen ihr die schönsten Laute flossen, erinnerten an eine weiche Welle. Ihr Gesicht war so schön. Es hatte eine Unschuld und eine gewisse Naivität an sich. Fast schon kindlich. Natürlich. Sie hatte zierliche Schultern. Ihre Brust war fast mädchenhaft. Ihre schmale Taille und ihr straffer Bauch rundeten das Bild ab. Dass sie keinen Bauchnabel hatte fiel kaum auf. So unglaublich schön. Ihre Hüften waren im Verhältnis zu ihrem schlanken Körper eher breit und rund. Dort, wo bei einer normalen Frau die Oberschenkel beginnen würden, auf dem die Beine folgen würden, war bei ihr jedoch eine Flosse vorzufinden. Es war komisch, hatte er sich doch Meerjungfrauen immer mit schuppigen Flossen vorgestellt. Ihre Flosse war von Haut überzogen. Derselben Haut, wie sie sie am ganzen Körper hatte. Ihre Haut erinnerte an die eines Delfins, nur war diese nicht gräulich.
Sie saß seitlich, so konnte er ihren nackten Rücken betrachten. Ihre Wirbel ragten weit heraus, wurden schmaler und mit einer dünnen membranähnlichen Haut überspannt. Eine Rückenflosse. Auch ihr Gesang erinnerte an den eines Delfins, oder Wals. So unglaublich schön.
Sie redete nicht. Sie sang. Ihr Gesang erinnerte ihn an die Weiten des Ozeans. An seine Schönheit und Freiheit. Ihr Gesang war so betörend. Er klang wie das Rauschen des Meeres. Wie die tanzenden Wellen, die an das Ufer rollen. Wie der streichelnde Wind, der über das Wasser gleitet.
Sie lächelte und winkte ihn zu sich. Ihre Finger wurden von dünnen Schwimmhäutchen verbunden. Er konnte es kaum fassen, saß sie doch die ganze Zeit über Regungslos da. Der Gesang setzte nicht aus.
Langsam watete er durch das Wasser und kletterte über die Steine, umsichtig und bedacht darauf nicht auf ihnen auszurutschen, da sie von der umherfliegenden Gischt nass und glitschig waren. Ihre Blicke waren immer auf ihn geheftet. Neugierig beobachtete sie seinen Weg über die Steine. Folgte mit ihren Augen seinen Bewegungen. Nach einer Ewigkeit war er bei ihr angekommen und ließ sich ganz vorsichtig neben ihr nieder. Behutsam streichelten ihre nassen Hände über seine Wange. Sie legte einen Finger unter seinem Kinn und zog sein Gesicht ganz nahe an das ihre. Er schaute ihr direkt in die Augen. Ihre Lippen berührten sich.
Plötzlich verschlug es ihm dem Atem. Es kam ihm vor, als wenn er plötzlich ins Wasser gestoßen wurde und er wie ein Stein in die Tiefe sank. Er war von ihrem Blick gefangen, wie von den Fängen des Meeres. Er ertrank in ihren dunklen Augen, die keinen Grund zu haben schienen. So unglaublich schön. Wie das Meer. In seiner Brust verkrampfte sich die Lunge. Bäumte sich auf. Wollte Luft. Es kam ihm vor, als fülle sich sein Mund mit Wasser. Und er schluckte es. Seine Lunge füllte sich mit Wasser, statt mit befreiendem Sauerstoff. Er wollte schreien, doch er konnte nicht. Etwas versiegelte seinen Mund, sodass kein Ton über seine Lippen weichte. Der Druck nahm zu. Die Wassermassen erdrückten seinen Körper, je tiefer er in das dunkle Blau sank. Dieses dunkle Blau. So musste der Grund des Meeres aussehen. Auf dem er bald liegen würde. Es war eine unglaubliche Qual. Sein Körper bäumte sich immer mehr auf. Brauchte Sauerstoff. Dunkelheit umfing ihn.
Das Blau verschwand. Das Siegel löste sich von seinen Lippen. Prustend spuckte er Wasser und verschluckte sich, als zeitgleich der ersehnte Sauerstoff in seine Lungen floss. Seine Brust schmerzte. Mit weit aufgerissenen Augen und heftig atmend starrte er sein Gegenüber an. Ihre tiefblauen Augen. Ihre wunderschönen Lippen. Von einer plötzlichen Eingebung getrieben, fuhren seine Hände über seinen Körper, als würde er überprüfen, ob noch alles da war. Er wäre beinahe ertrunken. Er war am ertrinken. Weder seine Klamotten noch seine Haut waren nass. Sein Haar - nur die Spitzen waren von der umher wehenden Gischt feucht geworden. Er war nie im Wasser. Plötzlich erschien ihm ihr unbewegliches Gesicht kühl und wütend, wie die stürmische See. Regte sie sich doch nicht, schien sie zu toben, zornig, wie die Gewalt der Wellen. Der Strudeln und Strömen. Wütend darüber, nicht bekommen zu haben was sie wollte. Eben noch so ruhig - jetzt stürmisch. Sie war so wechselhaft wie die See. So unberechenbar. Aber so schön. Sie war eines der Kinder der See.
Ein kalter Wind wehte, dann war es ihm, als hörte er ein Zuschlagen einer Tür. Das Kind der See und der steinige Strand waren verschwunden.
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Autorin / Autor: Ann, 17 Jahre - Stand: 19. Mai 2010