Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
„Fünf Liter Milch, bitte“, bestellte Emmas Mutter. „Gerne“, erwiderte der Ladenbesitzer. Er hatte weiße Haare und unnatürliche Augen, deren Farbe Emma nicht genau bestimmen konnte. Er blickte Emma seltsam an, wandte sich dann jedoch um, um dem Wunsch ihrer Mutter nachzukommen. Emma sah sich genauer im Laden um. Es war ein großer, dunkler Raum mit vielen Regalen, auf denen alle möglichen Sachen standen. Am Ende des Raums war eine Tür, die ihren Blick beinahe magisch anzog. Die Tür war nur angelehnt und durch den schmalen Spalt fiel ein funkelnder Streifen Licht. Vorsichtig lief Emma auf die Tür zu. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass der Mann noch mit ihrer Mutter beschäftigt war und schlüpfte rasch durch die Tür.
Verwirrt schloss sie ihre Augen doch als sie sie wieder öffnete, lag vor ihr immer noch das seltsame Bild. Sie stand auf einer weiten Wiese, die sich bis an den Horizont erstreckte, wo sie hohe Hügel ausmachen konnte. Aber das seltsamste an ihrer Umgebung war, dass die Tür verschwunden war, ja nicht einmal ein Haus stad noch auf der weiten Ebene, die sie umgab. Um sie herum wehte ein leichter Wind und die Luft roch angenehm frisch nach Gras. Als sie sich umdrehte, sah sie einen dichten Wald hinter sich. Während sie die wunderbare Landschaft betrachtete, verweilten ihre Gedanken schon nicht mehr bei dem verschwundenen Gebäude sondern bei der Erkundung ihrer Umgebung. Zuerst wollte sie in den Wald und schauen, ob dahinter etwas Interessantes lag. Schon lief sie los, mit schnellen Schritten auf den Wald zu, doch der schien nicht näherzukommen. Seltsamerweise rückte er eher weiter in die Ferne. Emma rannte weiter doch plötzlich stand sie an dem Ausläufer eines der Hügel, die sie vorhin aus der Ferne gesehen und für viel weiter weg gehalten hatte. Hinter sich hörte sie ein Bellen. Schnell drehte sie sich um und erblickte einen großen, braunen Hund. Da es in Emmas kleinem Dorf sehr wenige Hunde gab, war es verständlich, dass sie sich vor ihm niederkniete und die Hand austreckte, um ihn zu streicheln. „Du bist aber ein schöner Hund“, murmelte sie. „Danke“, antwortete dieser. Vor Schreck zog Emma ihre Hand zurück. „Du… Du kannst sprechen?“ „ Du kannst doch auch sprechen“, entgegnete der Hund. Darauf wusste Emma nichts zu sagen. Deshalb fragte sie höflich “Kannst du mir sagen, wie ich zum Wald komme?“ „Du musst in die entgegengesetzte Richtung laufen.“, erklärte ihr das Tier. Die arme Emma war ganz verwirrt. „Aber ich will doch in den Wald und nicht davon weg", widersprach sie. „Eben. Hier geht alles rückwärts. Das kommt davon, weil die Zeit rückwärts läuft. Deshalb musst du auch vom Wald weglaufen wenn du hinwillst“. „Vielen Dank, Herr Hund“, sagte Emma. Sie wollte ihn gerade nach dem Weg zurück zur Tür fragen, da bemerkte sie, dass er verschwunden war. Überrascht drehte sie sich einmal um sich selbst, doch nirgendwo sah sie den Hund oder irgendetwas, hinter dem er sich hätte verbergen können. Nach einer kurzen Suche ohne Erfolg, beschloss sie den Anweisungen des Hundes zu folgen, um so zum Wald zu gelangen. Sie lief also in Richtung der weiter entfernten Hügel los. Und tatsächlich stand sie bald unter den ersten Bäumen. Als sie einige Minuten gegangen war, kam sie an eine kleine, sonnenüberflutete Lichtung. In der Mitte dieser Lichtung stand ein uralter Mann mit weißem Haar auf einen Stock gestützt. Emma, die schon etwas müde war und bald nach Hause zurückwollte, ging vorsichtig auf den Greis zu. „Entschuldigen Sie“, sprach sie ihn an, „können Sie mir sagen wie ich in den Laden zurückkomme?“ Der Alte starrte sie mit trübem Blick an. „Wende dich an die, die manchmal zu rasen scheint, manchmal stillzustehen, in Wahrheit jedoch nie ihre Geschwindigkeit ändern, nur ihre Richtung. Viel Glück, Evas Tochter!“ Während er das sagte, schien es Emma, als würde er immer jünger werden. Verwirrt blinzelte sie. Der alte Mann war nun nicht mehr alt. Vor ihr stand ein junger Mann, höchstens Ende zwanzig, doch anstatt anzuhalten, schritt die Verjüngung immer weiter fort. Der Mann wurde zum Jugendlichen, dann zum Kind. „Ich glaube ich verstehe nicht ganz“, bemerkte sie, wobei sie die erstaunliche Wandlung des Mannes nicht erwähnte aus Angst, dies könnte unhöflich erscheinen. „Bald wirst du verstehen, Evas Tochter“, quakte das Kleinkind vor ihr. Als Emma sich beunruhigt die Augen rieb, lag nur noch ein Säugling vor ihr. Doch auch dieser verschwand mit einem leisen Plopp. Emma zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte jedoch kaum Zeit zum Luftholen, als auch schon die nächste wundersame Gestalt auf sie zugeflattert kam. Es handelte sich um eine Eule mit einer dicken Brille. „Wo ist er hin“, platzte Emma heraus. „Oh, er wird bald wieder erscheinen. Er wird als alter Mann geboren, wird immer jünger und stirbt irgendwann, bevor er wiedergeboren wird. So ist der Lauf der Dinge.“ „Können Sie mir vielleicht helfen? Er hat mir ein Rätsel gestellt, das ich nicht verstehe.“ „ Wir werden sehen“, sagte die Eule. Emma wiederholte den seltsamen Spruch des Alten. „Das ist die Zeit. Sie kann mal rückwärts, mal vorwärts laufen, aber ihre Geschwindigkeit bleibt immer gleich.“ „Danke, aber wie soll ich mich an die Zeit wenden? Und wie soll ich wieder nach Hause finden?“, fragte das Mädchen. „Vermutlich meinte er einfach, du sollst die Zeit vorwärts drehen.“ „Aber ich kann die Zeit doch nicht drehen“, wandte sie schüchtern ein. „Du nicht, aber ich“ und mit diesen Worten zog das Tier eine goldene Taschenuhr hervor und begann den Zeiger nach vorne zu drehen. Für einen kurzen Moment raste ein weißer Schleier an Emma vorbei, dann stand sie wieder im Laden. „ Und drei Salatköpfe, bitte“, sagte ihre Mutter gerade. Sie schien ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt zu haben. Nur der alte Ladenbesitzer starrte sie aus seinen hellen Augen an. „Und wie hat es dir gefallen, Evas Tochter?“, fragte er mit heiserer Stimme.
Autorin / Autor: Pippa, 15 Jahre - Stand: 14. Mai 2010