Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Die Klasse verstummte als ich den Raum betrat.
Selbst nach drei Monaten starrten mich Mädchen und Jungen der anderen Klassen an, wisperten sich etwas zu und konnten kaum ihre Augen von meiner Narbe lassen. Sie schlängelte sich von meiner Schläfe die linke Wange hinab zu meiner Schulter. Sie war unübersehbar und ich spürte jeden Blick der Menschen auf ihr.
Es passierte am 3. März, nachts. Mein Vater hatte den ganzen Tag lang gearbeitet und ging deswegen früh zu Bett, so wie ich, denn ich schrieb am nächsten Tag eine Mathearbeit. Meine Mutter blieb länger auf.
Mitten in der Nacht wachte ich urplötzlich auf und nahm einen unangenehm Geruch wahr. Stocksteif und mit aufgerissenen Augen saß ich auf meinem Bett. Im Flur verstärkte sich der Geruch von Verbranntem.
Meine Nackenhaare standen mir zu Berge und je weiter ich den Flur entlang ging, desto stärker wurde der Geruch und da sah ich es flackern. Feuer, dachte ich, das kann nicht wahr sein. Ich wusste nicht einmal, wie das Feuer entstehen konnte, aber es loderte wild am Küchentresen.
Reflexartig öffnete ich meinen Mund und schrie minutenlang, bis mich mein Vater vom Feuer wegzerrte.
„Such deine Mutter, ich kümmere mich um das Feuer!“, befahl er und ich gehorchte.
Ich riss die Tür zum Wohnzimmer auf und fand dort meine Mutter schnarchend auf dem Sofa vor.
„Mama!“, schrie ich und rüttelte sie. „Wach auf!“
“Oh, bin ich wieder eingeschlafen? Danke, dass du mich…“, setze sie an, aber ich unterbrach sie.
„Es brennt!“
Als sie begriff, stürzten wir hinaus zu meinem Vater in die Küche und ich verständigte die Feuerwehr.
Ich sah, dass mein Vater neben meiner Mutter kniete und plötzlich ging alles ganz schnell.
Dad versuchte, das Feuer zu löschen. Ich blieb bei meiner Mutter und geriet auf einmal in die Flammen. Mein Körper wurde von einer auf die andere Sekunde heiß und ich nahm nichts mehr wahr.
Alles vor meinen Augen verschwamm und das letzte, was ich sah, waren die lodernden orangehellen Flammen.
Ich öffnete langsam meine Augen und nach einigem Blinzeln erkannte ich, wo ich war. Ich war in einem Krankenwagen.
„Wo ist Mama?“, fragte ich und hörte meine eigene Stimme kaum.
„Pst, ganz ruhig, Alina“, sagte eine sanfte Stimme.
„Wo ist sie? Ich will sie sehen.“
„Deine Mutter ist nicht da. Wir sind gleich im Krankenhaus, da wirst du behandelt“, antwortete die Frauenstimme.
Warum konnte sie mir nicht sagen, wo meine Mutter war? Und wo war mein Vater? Und was war überhaupt passiert? In meinem Kopf herrschte Leere.
Später erzählte mir mein Vater, was passiert war. Und ich erfuhr auch, dass meine Mutter tot war.
Sie war weg, sie würde nie wieder kommen. Sie hatte das Feuer nicht überlebt. Aber auch ich war nicht unverschont davon gekommen.
Meine Narbe. Davon kam sie. War sie die Strafe dafür, dass ich meine Mutter nicht gerettet und sie allein gelassen hatte, als auch ich in die Flammen geriet?
Mein Vater konnte nicht mehr an seine alte Arbeitsstelle und das Haus zurück. Zuviel erinnerte uns beide an Mom. Wir zogen schließlich um. Dad hatte dort auch wieder eine neue Arbeitsstelle und eine Wohnung für uns gefunden. Er musste den ganzen Tag schuften, damit er die Miete für die Wohnung bezahlen konnte.
Meine Klasse, unterentwickelte Jungs und überschminkte Mädchen, war die reinste Katastrophe. Sie machten nie Hausaufgaben, lernten nie und sie schienen alle nur auf Alkohol, Partys und Drogen abzufahren.
Ich war ein Außenseiter. Ein Freak in schwarzen Klamotten, der nie redete.
Keiner fragte jemals, was es mit meiner Narbe auf sich hatte. Doch teilweise war ich auch froh, dass sie mich in Ruhe ließen. Ich musste niemandem groß meine Vergangenheit erklären. Aber es gab auch Zeiten, in denen ich mich einsam und verlassen fühlte. Ich hatte niemanden und war niemand.
Am Morgen wartete ich an der Haltestelle, bis der Bus kam und fand einen Platz ganz hinten. Ich wusste, dass sich niemand neben mich setzen würde, sie würden lieber stehen, als sich neben mich zu setzen. Sie wollten nichts mit mir zu tun haben und ich wollte nichts mit ihnen zu tun haben.
Die Busfahrt zur Schule fühlte sich für mich wie eine halbe Ewigkeit an. Die Blicke, das Flüstern, das Zeigen mit dem Zeigefinger auf mich – wie hätte ich es ausblenden sollen? Ich war nun mal eben eine Kuriosität.
Ich trat in den Klassenraum und ging mit schnellen Schritten auf meinen Platz in der hinteren Reihe zu. Keiner starrte mich mehr an, sie taten so, als wäre ich nicht da.
Ich konnte beobachten, wie sich Klassenzicke Miriam und Macho Leon anschrieen und schubsten. Was war denn mit denen los?
Nach Schulschluss lief ich zur Haltestelle und wartete dort mit anderen Schülern auf den Bus. Wie immer wurde mit vorgehaltener Hand gekichert, auf mich gestarrt und gezeigt. Selbst beim Nachhauseweg hörte das Kichern und Anstarren nicht auf.
An manchen Tagen kam es mir vor, als hätte man mir ein leuchtendes Schild umgehängt, das nur alle Aufmerksamkeit auf mich und meine Narbe richtete. Es wäre mir lieber, man würde mich nicht beachten – so wie meine Klasse.
Und warum empfanden die Leute es nicht als peinlich oder unfreundlich, mich derart anzustarren? Als wäre ich ein Monster.
Ausgerechnet heute hatten wir keine Hausaufgaben aufbekommen, so dass ich beschloss, zur alten Fabrik in der abgelegen Wohngegend zu laufen. Dort war nie jemand, sie stand schon seit Jahren leer. Nur Spinnen und meine Wenigkeit.
Als ich die Tür zur Fabrik öffnete, kam mir ein ungutes Gefühl entgegen. Ich war nicht alleine.
Ein leises Stöhnen, dann ein Knacken.
Es kam von der Tür rechts oben. Mit schnellen Schritten ging auf die Tür zu, sie war angelehnt. Ich wusste nicht, was mich dazu brachte.
Mit einem Ruck öffnete ich die Tür, die sich in diesem Moment tonnenschwer anfühlte.
Dahinter saß zusammengekrümmt und schluchzend– ich konnte es kaum glauben – Miriam. Jemand schlug ihr immer wieder in den Nacken, der schon ganz gerötet war.
Doch bevor ich reagieren konnte, spürte ich einen harten Schlag auf den Hinterkopf und alles wurde schwarz…
Autorin / Autor: Larissa, 16 Jahre - Stand: 4. Juni 2010