Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Am Tag, an dem ich starb, regnete es in Strömen. Trotzdem konnte man meine Tränen sehen. Phillip drückte mich an die Mauer. Immer fester. Die anderen aus dem Heim standen um ihn herum und drängten: „Los Billie, mach schon!“ Ich schaute mich ängstlich nach einer Fluchtmöglichkeit um. „Los!“, knurrte Phillip. Er war schon tropfnass, aber das bedrohliche Funkeln in seinen Augen blieb. „Ich will nicht“; flüsterte ich. „Jetzt hör mir mal zu!“ Phillips Stimme klang bedrohlich: “Wir haben es alle getan. Uns ist nichts passiert! Und du willst doch eine von uns werden, oder?“ Ich schluckte. Sie waren nicht nett gewesen, von Anfang an nicht. Sie hatten mich gemobbt. Getreten, geschlagen, beschimpft. Nur darum wollte ich die Mutprobe machen. „Okay.“ Meine Stimme klang heiser. „Nein, tu es nicht!“ Meine Rettung! Ich atmete erleichtert auf. Maria! Die Einzigste im Heim, die nicht zu Phillips Gruppe gehörte.
Jetzt trat sie aus dem Schatten. Ich schrie auf! Sie ging nicht, sie fuhr! Im Rollstuhl! „Maria! Was…“ Jetzt erst sah ich ihre Beine an. Besser gesagt die Stelle, an der sie sein sollten. Vor 3 Monaten war sie noch gut gelaunt herumgehüpft. Aber jetzt… fehlten sie. „Tu es nicht!“ Ihre Stimme klang flehend. „Ich habe es auch getan. Bitte!“ Jetzt ergriff Phillip erneut das Wort: „Los, mach schon!“ Ich schaute in 16 grimmige Gesichter und startete einen letzten Versuch: „Aber die Mauer ist doch viel zu hoch!“ Das ließ Phillip völlig kalt: „Dann machen wir eben eine Räuberleiter.“ Okay. Ich atmete tief durch. Dann stieg ich auf Phillips Hände. Ich spürte das raue Gestein, als ich hinüberkletterte. Ich sprang. Es war nicht tief, aber trotzdem nahm ich diesen Aufprall sehr deutlich wahr.
Man sagt, vor dem Tod kommt einem alles deutlicher vor. Als ich das nächste Hindernis sah, atmete ich auf. Der Stacheldrahtzaun! Hier gab es erst einmal kein Durchkommen. „Ich komme nicht durch“, sagte ich darum leise, aber immer noch so, dass Phillip und sein Trupp es verstehen konnten. „Hier“, sagte Phillip eben so leise und warf mir ein Taschenmesser über die Mauer. „Aber…ich…“ „Kein aber!“ Er klang gefährlich. „Einmal in den Westen und zurück! So war es ausgemacht!“ Also gut. Ich war schon verbrannt worden, ertrunken, überfahren und vergast worden. Das hier würde ich auch überstehen. Wozu war ich denn das Mädchen mit den 7 Leben? Dieses Mal hatte es mich halt in die tiefste DDR verschlagen. Es war der 13. Oktober 1974. Ich nahm das Taschenmesser und ritzte den Zaun auf. Das lief ja wie geschmiert! Ich schlüpfte unter dem Stacheldraht hindurch und schlich mich an den russischen Dreiecken vorbei.
Danach kam der Fluss. Ohne zu zögern sprang ich hinein und schwamm. Nass war ich ja sowieso. Nun war ich froh, als ich sah, dass im nächsten Zaun schon ein großes Loch war. Das Taschenmesser hatte ich nämlich im Fluss verloren. Umso ängstlicher wurde ich, als ich um mich herum lauter gelbe Punkte erblickte. Die Hunde!, schoss er mir durch den Kopf, ich bin im Hundefeld! Kam davor nicht noch etwas anderes? Aber das war mit in diesem Moment egal, denn sie umkreisten mich. Sie hatten große, scharfe Zähne und Schaum vor dem Maul. Ihr Kreis wurde enger und enger. Einer von ihnen schubste mich. Ich fiel, fiel auf etwas Rundes, Metallenes. Etwas rundes, Metallenes? Oh Nein! Das davor war das Minenfeld gewesen! Wenn ich jetzt aufstand, würde ich von der Mine in die Luft gesprengt werden. Blieb ich liegen, würden mich die Hunde zerfleischen Mein Herz klopfte. Ich hatte fürchterliche Angst. Ich wollte das alles doch gar nicht! „Auf Weidersehen, Maria“, flüsterte ich. Dann erhob ich mich. Das Letzte, das ich sah, waren 7 wütende Hunde.
Sie hörten die Explosion nur von fern, dennoch zuckten sie zusammen. Marias Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ihr Mörder“, schrie sie Phillip und seine Gruppe an und warf einen Stein nach ihnen. „Aber wir…wir…“, stotterte er. „Ihr. Ihr habt Billie das Leben genommen. Und mir die Chance auf meine Zukunft. Ihr seid keine Kinder. Ihr seid Monster!“
Um mich herum war alles schwarz. Doch dann sah ich ein Licht. Ich ging darauf zu, erst langsam, dann immer schneller und schneller… Das Erste, was ich an diesem Tag sah, war die Mauer. Obwohl es Nacht war, war sie hell erleuchtet. Aber dieses Mal tummelten sich hier viele Leute, sie kletterten sogar freiwillig über die Mauer. Ich war noch zu klein gewesen, um zu begreifen, dass sie gefallen war. Doch obwohl ich gerade erst geboren worden war, stieg in mir eine düstere Erinnerung auf. Was mir später erst klar wurde: Ich war nun schon zum 6. Mal geboren worden. Mein Geburtstag war der 09.11.1989.
Obwohl dieses Leben genauso war wie alle anderen davor, spürte ich, dass etwas anders war. Aber was? An einem gewöhnlichen Schultag in der 5. Klasse fiel es mir siedend heiß ein: Ich war verbrannt worden. Ertrunken, überfahren, vergast. In die Luft gesprengt. Und nun? Es war mein 6. Leben!
Und was mir jetzt noch klar wurde:Es war allein mein Leichtsinn und meine Abenteuerlust gewesen! Hätte ich mich nicht damit gebrüstet, dass ich alle von der Pest heilen kann, hätte man mich auch nicht als Hexe verbrannt. Hätte ich nie einen Fuß auf Kolumbus´ Santa Maria gesetzt, wäre ich auch nicht ertrunken. Hätte ich nach links und rechts geschaut, hätte mich die Dampfmaschine auch nicht überfahren. Hätte ich mich besser versteckt, wäre ich auch nicht vergast worden Und hätte ich mich nie auf Phillips Mutprobe eingelassen, wäre ich auch nicht in die Luft gesprengt worden. Was sollte jetzt noch kommen?
„Überraschung!“ Verdutzt starrte ich eines Morgens in die freudestrahlenden Gesichter meiner Eltern. Das Wohnzimmer war mit Luftballons und Luftschlangen geschmückt worden. Auf dem Tisch stand eine riesige Torte mit der Aufschrift: “Happy Birthday!“ Ich schaute meine Eltern schief an: „Äh… euch ist aber klar, dass mein Geburtstag erst übermorgen ist, oder?“ „Wirklich?“, fragte mein Vati mit einem sehr ironischen Unterton. Meine Mutti lachte: „Das war nötig, wegen deines Geschenks.“ Mein Geschenk? Ich wurde neugierig. Mein Vati hielt mir ein kleines, flaches, liebevoll verpacktes Geschenk unter die Nase. „Mach es auf!“, forderte er mich auf. Ich zog an der Schleife und riss dann vorsichtig das Päckchen auf. Das Erste, was ich sah, war das Wort „Flugticket“, dann das heutige Datum, der 07.11.2001. Die Uhrzeit 20.30 Uhr, Flugplatz Berlin. Nach. Amerika. Amerika? New York? Was sollte ich denn da? Fragend sah ich meine Eltern an. Meine Mutti lachte: „Das ist noch längst nicht alles!“ Und wirklich: Unter dem Ticket kam noch etwas zum Vorschein: „Konzertkarten für Madonna?“ Ich konnte es kaum fassen! Ich liebte ihre Musik! Und das Konzert war genau an meinen Geburtstag! „Dankedankedanke!“ Ich fiel meinen Eltern um den Hals. „ Das ist das beste Geschenk aller Zeiten!“ Sie lachten. „Dann packe mal schnell deine Tasche. Du hast die Zeit ja gesehen…“ Und so standen wir am Abend in der Großen Flughalle. Hätte ich gewusst, welche Folgen dieser Flug haben würde, hätte ich sogar auf Madonna verzichtete.
Autorin / Autor: Celine, 12 Jahre - Stand: 14. Juni 2010