Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
An dem Abend, an dem ich Madame Timm traf, war meine Laune an einem der tiefsten Tiefpunkte meines 15-jährigen Lebens angelangt. Zu diesem Zeitpunkt lief einfach alles schief – meine Noten waren im letzten Quartal unaufhaltsam abgerutscht, mein Freund hatte mich verlassen, meine übrigen Freunde mieden mich, weil ich ewig jammerte – und zu allem Überfluss konnte ich mich selbst kaum leiden, ich war mir selbst zuwider. Meine eigene Gegenwart erschien mir unerträglich. Täglich ertrank ich in Selbstmitleid. Ich fühlte mich, als wäre ich eingemauert und könnte nie wieder entkommen. Obwohl ich wusste, dass ich etwas ändern sollte, konnte ich nicht handeln und sah mir selbst von außen dabei zu, wie ich mein Leben verkorkste.
Heute hatte ich eine fünf in Chemie nach Hause gebracht. Meine Mutter war nicht erstaunt, kritzelte nur genervt ihre Unterschrift unter das Zeugnis meiner Unwissenheit. Gerade hatte ich meine Schultasche beiseite gestellt und mich aufs Bett geworfen, als meine Mutter in mein Zimmer war. Ich sollte noch einkaufen gehen. Genervt protestierte ich, aber meine Mutter war unerbittlich.
Ich machte mich also auf den Weg zu dem überfüllten, lauten und dreckigen Supermarkt bei uns um die Ecke. Nachdem ich die Kasse mit einer unfreundlichen Kassiererin hinter mir gelassen hatte, drängte ich mich gereizt durch die Menge. Endlich am Ausgang angekommen, drehte ich mich scharf nach rechts.
Jäh wurde ich aus meinen Gedanken über die Undankbarkeit der Welt gerissen, als ich mit jemand anderen zusammenstieß. Der Aufprall war so heftig, dass ich mit beiden Tüten in der Hand fiel, ohne mich abstützen zu können. Nachdem ein Moment des Schreckens vergangen war, blickte ich mich um und erkannte in dem zweiten Unfallofer eine Frau in den Sechzigern. Sie war klein, was durch den Schnitt ihres blauen Kostüms betont wurde. Ihre grauen Haare sahen ein bisschen durcheinander aus. Ich lächelte entschuldigend und murmelte etwas in meinen nicht vorhandenen Bart. Ich begann, unsere Einkäufe einzusammeln. Als ich fertig war, nickte ich ihr zu und wollte mich zum gehen wenden, als sie mir die Hand entgegenstreckte: „Mein Name ist Madame Timm“. Sie hatte eine alte, knarzige Stimme, die mich an meine Großmutter, die schon verstorben war, erinnerte. „Carla.“ , stellte ich mich dann auch vor und gab ihr die Hand. Und dann lud mich Madame Timm auf „einen Kaffee, Tee, Kakao oder sonst irgendetwas“ ein. Spontan sagte ich zu und folgte ihr.
Madame Timms Häuschen war eine kleine Remise in einem stillen Hinterhof. Fensterläden und Tür waren in leuchtendem Himmelblau gestrichen, aber die Farbe drohte schon abzublättern. Links und Rechts vom Eingang waren Nelken gepflanzt worden. Madame Timm öffnete mit geübtem Griff die knarrende Tür und in meinem Blickfeld zeigte sich ein heimeliger Flur, chaotisch, mit lauter Gegenständen, von denen man ihr Nutzen nur erraten konnte. Ich sah Regenschirme, Unmengen von Jacken und Schuhen, Pflanzen, Gartengeräte, Bücherstapel, Münzen und Federn auf Dem Boden, an den Wänden und auf einem kleinen Tischchen verteilt. In einer Ecke stand ein übergroßer schwarzer Vogelkäfig, der als Aufbewahrungsort für Obst und Gemüse diente. Durch eine offene Tür sah ich eine Küche, in Rosé und Weiß gehalten, in der ein ebensolches Wirrwarr an Gegenständen herrschte wie im Flur. Etwas an diesem Haus faszinierte mich, vielleicht das geordnete Chaos, vielleicht das hohe Alter, vielleicht die Gerüche und Geräusche.
Madame Timm winkte mich aus der Küche zu sich und ich stellte meine Tüten ab. „Was möchtest du denn trinken, Liebes?“ – „Früchtetee wäre schön“, sagte ich schüchtern und folgte ihr dann in die Küche. Auf einem Gasherd kochte schon das Wasser. „Setz dich, Kind. Gleich kann ich dir helfen.“ „Wie meinen Sie das, mir helfen. Ich brauche keine Hilfe.“ – „Da irrst du dich, mein Mädchen. Ich kann dir ansehen, dass du sehr mitgenommen bist. Möchtest du mir erzählen, was dich so beunruhigt?“ Madame Timm wurde durch das Pfeifen des Wasserkessels unterbrochen. Schweigend füllte sie zwei Tassen mit heißem Wasser und hängte die Teebeutel hinein. Eine reichte sie mir, dann setzte sie sich neben mich. Ein kurzes, verlegenes Schweigen trat ein. Und dann erzählte ich ihr alles.
Ich verließ Madame Timm erst nach zwei Stunden, zwei Stunden in denen ich geweint und mich beschwert hatte, in denen Madame Timm mir immer wieder Tee eingeschenkt hatte, mir zugehört und mich getröstet hatte. Ich gestand mir selbst ein, dass mir das gefehlt hatte. Mit meiner Mutter hatte ich mich schon lange nicht mehr intensiv unterhalten, schon gar nicht über meine Probleme. Ich fühlte mich leicht und ruhig, ein bisschen, als wäre ich betäubt. Ich brauchte lange, bis ich meine Jacke angezogen hatte, und noch länger, um meine Schuhe zu schnüren. Madame Timm winkte mir zum Abschied, bis ich mit meinen Einkäufen aus dem Hinterhof verschwand.
Dann plötzlich war ich wieder im lauten Leben einer breiten Straße, schwitzende Menschen, viel Lärm, aufdringliche Gerüche. Ich fühlte mich fremd, noch ganz auf die Geräusche der Natur aus Madame Timms Garten und die lauschige Atmosphäre eingestellt. Langsam setzte ich mich in Bewegung; meine Mutter würde mich zu Hause schon längst erwarten.
Abends im Bett dachte ich darüber nach, warum mich dieser Nachmittag mit Madame Timm so berührt hatte. Ich kam zu keinem Ergebnis. Erst kurz vor dem Einschlafen wurde mir klar, was sie in mir bewirkt hatte. Ich freute mich auf den nächsten Tag! Ich wollte wieder aufwachen, etwas unternehmen, meine Umwelt wahrnehmen. Ich fühlte mich frei. Und mir wurde klar, dass ich nicht mehr eingemauert war. In der Mauer, die mich gefangen gehalten hatte, war jetzt eine Tür. Sie war angelehnt, und ich musste sie nur noch öffnen…
Autorin / Autor: Anna, 15 Jahre - Stand: 14. Juni 2010