Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Seit genau 4 Tagen hat meine Mutter mir verboten, in den Gerätekeller zu gehen. „Was meinst du, was will sie vor dir verbergen?“, fragte Lola mich in der Schule. Die Neugierde stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie warf ihr goldblondes Haar zurück und zog ihre feinen Augenbrauen zusammen. Ich zuckte nur ungerührt die Schultern. „Keine Ahnung. Aber du kennst ja meine Mutter, wenn sie mir etwas verheimlicht, dann nur für höchstens eine Woche.“ Lola runzelte die Stirn. Plötzlich sah sie ängstlich aus. „Ich weiß nicht, Nelly. Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber in dieser Tür geht etwas...Gefährliches vor.“ Ich stöhnte. Warum sollte ich ihr sagen, wie sehr mich ihr Gerede nervt, wenn sie es sowieso schon weiß? Sie schien es auch so schon zu merken, aber auch sie sagte dazu nichts. So diskutierten wir schon den ganzen Tag, sogar in der Mathestunde, was uns einen Eintrag ins Klassenbuch verpasste. In der Pause, sodass wir nichts essen konnten. Auch auf dem Heimweg redeten wir darüber und ich lachte sie aus, als sie hoch und heilig schwor, ein waschechtes Gespenst gesehen zu haben („Glaub mir Nelly. Bei deinen schwarzen Haaren schwöre ich dir, dass es ein Gespenst war.“). Doch obwohl wir uns ständig neckten, waren wir beste Freundinnen. Vielleicht war unsere Freundschaft deshalb so stark. Vielleicht.
Wir kamen bei mir Zuhause an. Entschlossen drehte ich mich um. „Ich werde in den Gerätekeller gehen.“, sagte ich. Sofort wurde Lola kreidebleich. „Willst du, dass ich mitkomme?“, fragte sie kleinlaut, obwohl sie sicher sehr große Angst davor hatte, selber in dem Haus eines Gespenstes sein! Ich lachte. „Hab keine Angst. Wenn ich ein Gespenst sehe, mache ich das Licht an.“, kicherte ich. „Geister haben keine Angst vor dem Licht. Ich habe es vor kurzem probiert.“, murmelte sie. „Tschüss!“, lachte ich und ging ins Haus. Ich drehte mich dort um, halb darauf gefasst, dass sie hinter mir stand, wie es immer war, wenn ich von der Schule kam. Aber da war meine Mutter nicht. Außerdem war es viel zu ruhig. „Hallo? Mama, ich bin wieder da!“ Keine Antwort. Und wo waren meine nervigen Brüder Timmy und Chuck? Da fiel mir ein, dass sie ja heute einkaufen gehen wollten. Ich verdrehte die Augen über meine eigene Dummheit. Also wirklich Nelly, du wirst langsam genauso verrückt, wie Lola! Und trotzdem konnte ich das ungute Gefühl das sich in meinen Magen gesetzt hatte nicht abschütteln. Ich schüttelte nur den Kopf. „Ach, bestimmt habe ich nur Hunger!“, meinte ich und führte doch tatsächlich Selbstgespräche. Zielstrebig ging ich in das zweite Stockwerk des Hauses. Als ich dann vor dem Gerätekeller stand, stutzte ich. Warum war die Tür auf? Das sah meiner Mutter gar nicht ähnlich, eine Tür aufzulassen. Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Kein Licht drang durch den schmalen Türspalt. Bildete ich mir das ein, oder hörte ich jemanden dahinter atmen? Doch ich griff, mit zittrigen Händen, nach dem Türgriff. Vorsichtig machte ich die Tür auf. Kein Licht brannte und man konnte gar nichts außer Umrissen sehen. Doch...was war das? An einem Balken des Kellers hing etwas. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Mein Herz raste wie wild. Mit nassen Fingern griff ich nach dem Lichtschalter. Schlagartig wurde es hell. Ich schrie auf, doch ich war unfähig mich zu bewegen. Es war ein Mädchen, das dort hing. Der Kopf hing in der Schlinge des Seiles, das an dem Balken befestigt wurde. Die langen dunklen Haare verbargen das bekannte Gesicht fast. Das war ich. Ich mit kalkweißem Gesicht und mausetot. Wie konnte das sein? Wie konnte ich hier stehen und mich ansehen? Mit schreckerweiterten Augen sah ich es: Es bildeten sich neue Leichen dazu. Am Ende waren es fünf Leichen: Meine Mom, die erstochen auf dem Boden lag; Timmy, dem der Kopf abgehackt, Chuck, der vergiftet, Lola, die erschossen wurde und natürlich ich. Ich wollte zurückgehen, aber die Tür war verschlossen. Ich griff nach dem Türgriff und zerrte, schüttelte daran, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Abermals änderte sich das Bild. Plötzlich war ich auf einem Friedhof und meine Familie war wieder lebendig. Ich wollte auf sie zugehen, sagen, dass sie verschwinden sollten, weil das ein Ort des Unglücks war, aber ich konnte mich nicht rühren. Zuerst dachte ich, sie wollten nach mir sehen, doch sie gingen achtlos an dem Grabstein vorbei, der mir ins Auge stach. Auf diesem stand: Nelly Maria Kobollo, geboren 03. 06. 1993, gestorben 05. 08. 2010. Doch, nein, sie kamen zu meinem Grab. Doch meine Freude hielt nur kurz, denn sie bespuckten es nur und verfluchten es. Ich schloss die Augen und schrie. Ich wollte nicht, dass meine Familie mich hasste, mich verachtete und ich mich nicht einmal wehren konnte... Ich wollte das alles nicht sehen.
„Nelly?“, fragte plötzlich eine bekannte Stimme. Ich öffnete meine Augen. Wie bin ich in mein Bett gekommen? Ich lag, schweißgebadet und am ganzen Leib zitternd in meinem Bett und daneben kniete meine Mutter. „Schatz, du hast schlecht geträumt.“ „Wie komme ich in mein Bett?“, fragte ich verwirrt. Sie strich mir die Haare aus meiner Stirn. „Nachdem du nach Hause gekommen bist, bist du zusammengebrochen, vor dem Gerätekeller warst du, als ich dich fand. Danach habe ich dich ins Bett gebracht und der Arzt hat mir gesagt, du hast eine Art Erkältung. Den lateinischen Begriff weiß ich nicht mehr.“ Sie lächelte mich zaghaft an. Ein lächerlicher Versuch, mich ebenfalls zum lächeln zu bringen. „Mom, was ist im Gerätekeller? “, flüsterte ich und musste husten. Ich spürte die Erkältung jetzt schon. Jetzt grinste sie. „Das weißt du doch, denn du bist ja trotz meines Verbots hineingegangen. Ich habe dein Geburtstagsgeschenk dort versteckt. Na, jetzt ist die Katze wohl aus dem Sack.“ Unten hörten wir ein lautes Klirren. Ich wusste sofort, wer das Geschirr fallen gelassen hat. Mom seufzte und erhob sich. „Chuck hat etwas fallen gelassen. Ich bin gleich wieder da, Schatz.“ Sie küsste mich auf die Wange und verschwand nach unten. Sie ließ die Tür offen, damit ich etwas Luft bekam. Ich seufzte glücklich. Es war alles nur ein Traum gewesen. In dem Keller war nur mein Geburtstagsgeschenk. Immer wieder sagte ich mir das. Ich seufzte und musste lachen vor Freude, auch wenn es mir im Hals ziemlich wehtat, wenn ich etwas sagte. Doch da erstarrte ich. Nein. O nein. Ich war mir ganz sicher gewesen, dass ich aus dem Gerätekeller, der direkt neben meinem Zimmer war, ein Wispern hörte: „Nächstes Mal wachst du nicht mehr auf, Nelly.“ Die Stimme klang hinterhältig und sehnsüchtig. Sehnsüchtig nach mir. Und ich öffnete meinen Mund und schrie.
Autorin / Autor: Kim, 12 Jahre - Stand: 15. Juni 2010