Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Im Zimmer war es still. Die Stille wurde nur noch vom gleichmäßigen Atem der zwei gegensätzlichen Mädchen unterlegt. Juna saß mit ausgestreckten Beinen in eine Decke gewickelt und mit einem Kissen an die Wand gelehnt. Ihre ausdruckslosen Augen betrachteten schon seit dem frühen morgen das weiße, von unruhigem Wasser umgebene Boot und jeden einzelnen Pinselstrich, den der Künstler in diesem Bild gesetzt hat. Aber vielleicht schauten auch nur ihre Augen auf das Gemälde, das so nichtssagend und unpersönlich wie all die anderen Bilder in all den anderen Zimmern war. Sie selbst schaute gerade wahrscheinlich in ihr tiefstes Inneres, in das ihr keiner folgen konnte. Schon lange hatte Juna die Sonne aus dem Zimmer verbannt und nichts mehr gegessen. Mittlerweile viel sie kaum noch auf zwischen der weißen Bettwäsche und der ganzen weißen Einrichtung. Doch die Sonne ließ sich nicht so einfach aus diesem trostlosen Zimmer vertreiben, denn sie hatte eine Verbündete. Nara, Junas beste Freundin und Mitbewohnerin, die niemals zwei Kleidungsstücke in der gleichen Farbe trug und sich niemals freiwillig in so unbunte Farben wie Schwarz, Weiß und Grau zwängen ließ. In Grün-Blau-Türlis-Gelb strahlte sie nun am Krankenbett. Und nicht nur sie. Zu jedem ihrer Besuche brachte Nara einen sommerbunten Blumenstrauß in diese triste Einöde. Aber Juna schaute noch immer nur in das aufgewühlte Wasser an der gegenüberliegenden Wand. Sie bewegte sich nicht, sie aß nicht, sie sprach nicht. Lediglich ihre offenen Augen waren ein Zeichen ihres lebendigen Daseins. Nara hatte schon alles, was ihr in den Sinn kam, ausprobiert, um irgendetwas über die Sache zu erfahren, aber bis jetzt waren alle ihre Versuche gescheitert. Und immer noch konnte sich niemand erklären, was Juna dazu getrieben hatte. Das farbenliebende Mädchen sah sich noch einmal die Wohnungstür öffnen, hörte sich noch einmal „Hallo, bin wieder da“ rufen und betrat noch einmal Junas Zimmer in der WG. Wieder schien auf den ersten Blick alles normal, doch die auf dem Bett Liegende wirkte keinesfalls normal. Zwar waren ihre Augen geschlossen, aber dass ihre Freundin schlief, daran dachte Nara nicht einen Moment lang. Wieder rannte sie an ihr Bett, beugte sich über Juna, versuchte irgendwie einen Ton aus ihr herauszubekommen. Und wieder streifte ihr Blick bei diesen Bemühungen das halbleere Wasserglas und die angelehnte Tür des Medikamentenschränkchens. Ein kurzer Blick hinein bestätigte die schlimmste aller Vorahnungen. Alle Tablettenpackungen waren aufgerissen, deren Inhalt breitete sich wahrscheinlich gerade in Junas Magen aus. Sie wusste zwar nicht mehr wie, aber sie hatte es irgendwie geschafft einen Notarzt zu rufen und seit einer Woche lag Juna nun schon im Krankenhaus. Nicht ein Wort hatte sie bisher gesagt und niemand aus ihrem Umfeld konnte auch nur ansatzweise erklären, was sie dazu getrieben haben konnte. Mittlerweile war sich nicht einmal Nara sicher, ob sie ihre Freundin wirklich kannte. Denn einen Selbstmordversuch hätte sie Juna niemals zugetraut, aber scheinbar hatte sie sich vollkommen vor ihrer Umwelt verschlossen. „Willst du es nicht doch mit der Therapie versuchen?“, fragte Nara. So oft hatte sie ihrer gleichgültig schauenden Freundin diese Frage gestellt, aber eine Antwort hatte sie bisher noch nicht bekommen. Die Therapie hatten ihr die Ärzte angeboten, um Juna zu unterstützen, um aus dem tiefen Loch, in dem sie sich vergraben hatte, herauszukommen, und um sich von ihrem seelischen Ballast zu befreien. Aber so viel Nara auch auf Juna einredete, sie gab keinen Laut von sich. Auch diesmal schien sie wieder tief in sich selbst verschwunden zu sein und Juna packte ihre Sachen schon zusammen, als sie einen Blick auf ihre Freundin warf und diese nickte. Nara zwinkerte nocheinmal und Juna nickte noch immer, wenn auch nur ganz leicht. „Du willst dir also helfen lassen? Wirklich? Das ist ja super!“, sagte Nara vollkommen aufgeregt, „Ich freue mich schon wahnsinnig, wenn du wieder bei uns bist. Tut mir echt leid, aber ich muss jetzt leider los.“ Nara umarmte sie noch und merkte dieses Mal sogar ein leichtes Drücken von Juna aus. Auf dem Gang sagte sie gleich dem nächstbesten Arzt Bescheid, dass sie sich, um einen Psychologen kümmern sollten. Zuerst schienen sie ihr gar nicht zuzutrauen, dass sie Juna doch noch davon überzeugt hatte, aber letztendlich hatte alles geklappt und schon zwei Wochen später saßen die beiden wieder gemeinsam am Frühstückstisch der WG. Nach und nach erzählte Juna auch, was der Grund dafür gewesen war, dass sie keinen anderen Weg mehr als den des Todes gesehen hatte. Aber sie bat Nara inständig, nie jemandem davon zu erzählen, was sie natürlich vollkommen verstehen konnte. Aber wenigstens hing vor der Tür ihrer Gedanken und Gefühle nun kein festverschlossenes Schloss mehr. Sie war stattdessen angelehnt.
Autorin / Autor: sanny, 16 Jahre - Stand: 15. Juni 2010