Die alte Frau
Weinend saßen die beiden auf dem Dach des verlassen Bushaltehäuschens. Ihr strahlendes Weiß war zu einem matten Beige gewichen und ihre samtenen Flügel hingen traurig und schlapp von ihren Schultern. Sie konnten nicht mehr fliegen. Denn die Liebe unter den Menschen war es, was ihnen die Kraft gab, ihre Flügel zu heben und inmitten eines zauberhaften Lichts in den Himmel empor zu steigen. Doch von dieser Liebe war nichts zu spüren. Da hörten sie auf einmal das schlurfende Geräusch von Schritten und das gleichmäßige Aufsetzen eines Gehstocks. Eine alte Frau kam langsam auf das Bushaltehäuschen zu. Sie konnte kaum gehen und machte nur ganz kleine Schritte. Sie trug nur eine leichte Weste und man sah ihr an, dass sie schrecklich fror. Ihr altes, faltiges Gesicht war schmerzverzerrt. Sie setzte sich mit einem Stöhnen auf die kalte Bank im Haltestellenhäuschen, lehnte sich zurück gegen die mit Graffiti verschmierte Wand des Häuschens und schloss die Augen. Sie war bis hier gekommen, wo auch immer sie herkam, wo auch immer sie hin wollte, doch ab hier konnte sie nicht mehr weiter.
Die beiden auf dem Dach wollten ihr helfen, doch noch immer konnten sie ihre Flügel nicht bewegen. Da kam eine junge Frau vorbei. Die beiden waren froh darüber, denn nun würde endlich der alten Frau geholfen werden. Die Schritte kamen näher, doch auf einmal wurden sie nicht langsamer wie erwartet, sondern in schnellem Eiltempo lief die Frau an der Alten vorbei, ohne ihr auch nur mehr als einen angewiderten Blick zu schenken. Die beiden waren empört. Zweifelnd und voller Wut saßen sie auf dem Dach, bis es dunkel wurde.
Da kam eine Gruppe Jugendlicher vorbei. Die beiden schöpften Hoffnung. Endlich. Da lachte einer der Jugendlich laut auf und zeigte mit dem Finger auf die Frau. Die Gruppe begann zu tuscheln und dann ging alles ganz schnell. Der Größte sprang hervor, schnappte sich die Handtasche der Alten, um dann unter lauten Jubelrufen seiner Freunde das Weite zu suchen. Die Alte starrte unbewegt an den Himmel und die Tränen flossen ihr über die Wangen. Auf dem Dach brodelten die beiden nahezu vor Wut auf die Menschen.
Da ertönten leise Schritte, die nur die beiden hörten konnten, denn für Menschen waren sie zu leise. Ein Mädchen bog um die Ecke. Die Engel seufzten. Was würde dieser Mensch nun wieder mit der Frau anrichten? Das Mädchen kam auf die Alte zugerannt.„ Hallo, was machen Sie denn hier draußen im Kalten?“ Die Alte war nicht minder überrascht als die Beiden auf dem Dach. Sie antwortete nicht, sondern starrte nur das Mädchen an. Dieses zog sich den Mantel aus und legte ihn der halb erfrorenen Frau um die Schultern. „Haben sie keine Angst, ich bringe sie mit zu mir nach Hause. Meine Familie hat ein großes Essen vorbereitet und wir können ihnen einen warmen Tee machen.“ Die verwirrte Alte reagierte nicht und als das Mädchen sie mehrmals fragte, wie sie denn heiße und woher sie komme, konnte sie die Antwort darauf nicht geben. Trotzdem half das Mädchen ihr sanft auf die Beine und stützte sie, so dass die beiden langsam über die verschneite Straße wankten und in der Dunkelheit verschwanden. Die Beiden auf dem Dach hatten dieses Mal nicht vor Wut, sondern vor Rührung Tränen in den Augen. Erst nach einen Minuten hatten sie sich wieder gefasst und einer von ihnen erhob sich. Da bemerkte er, dass seine Flügel sich wieder bewegen ließen und sein mattes Beige sich in ein Weiß zurückverwandelt hatte. „ Wir können wieder fliegen!“ rief er. Liebe, es gibt doch noch Liebe auf dieser Welt! Ein junges Mädchen war es, dass nicht nur die Frau mit ihrer Liebe, sondern auch uns gerettet hat!“ Und die beiden flogen in den Himmel.
Hinter sich, ließen sie eine Spur zurück, ein seltsames, helles Licht. Ein Licht der Hoffnung „ Zaubbblcht!“ murmelte die Alte. „ Zaubbblcht!“…. „ Zauberlicht?“ das Mädchen war erstaunt über diese ersten Worte der Frau, die sie hörte. Sie folgte ihrem Blick zum Himmel und da sah sie es. Zauberlicht. Ein Schweif aus tausenden Diamanten, wie es schien, ergoss sich über den nächtlichen Himmel. Für den Bruchteil einer Sekunde. Dann war er verschwunden, doch eine Wärme hatte sich in ihr Herz gelegt und schien dort zu pochen und zu schlagen. „ Zauberlicht!“ flüsterte auch sie und die Frau grinste sie zahnlos an, dann setzten sie ihren langsamen Marsch fort.
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Autorin / Autor: Forte - Stand: 24. November 2008