Sie war im Hause eines Engels und es schneite.
Die Regentropfen bahnten sich langsam ihren Weg durch die kunstvoll verzierten Ziegel des Einfamilienhauses. Es war ein großes Haus. Ein sehr großes. Fast schon eine Villa. Anna wurde mulmig zu Mute. Sie sollte besser gehen. Hier gehörte sie nicht hin. Nicht heute. Gerade nicht heute. Nicht an Weihnachten. Das Mädchen bereute es ihre Ecke im Hauptbahnhof verlassen und den Weg quer durch die Stadt, natürlich ohne Schirm, angetreten zu haben. Weiße Weihnachten. Pah!! Von wegen!! Max liegt jetzt bestimmt dort, dachte Anna, zwischen dem Kiosk und dem alten Fahrkartenautomaten. Wo es warm, oder zumindest wärmer als sonst irgendwo in der endlos grauen Eingangshalle meines ...ja meines was eigentlich?? Zuhause? Nein. Wohnplatzes? Schon eher. Unterkunftsortes? Ja, das ist gut: Anna Elisabeth Morgen, Unterkunftsort: Hauptbahnhof zwischen dem 2. Kiosk und dem blauen Fahrkartenautomaten, direkt links bei dem Seiteneingang zur Himmelsstraße, 99999 Ewigstadt. Falls jemand sie nach ihrer Adresse fragen sollte, wusste sie wenigstens, was sie antworten würde. Himmelsstraße, Ewigstadt, das klingt alles so...so friedlich. Und geborgen. Ist es vermutlich auch. Für Andere. Ich sollte wieder gehen. Noch während sie das dachte, drehte sie sich auf dem Absatz ihrer durchgelaufenen Schuhe um und wollte die breite Auffahrt zurücklaufen, als ihr Blick an einem lichtbeschienenen Fenster hängen blieb. Wahrscheinlich das Wohnzimmer, mutmaßte sie. Ich könnte ja mal... schließlich bin ich eingeladen... nur gucken... ich...... Sie reckte ihren Hals und versuchte durch das Fenster zu spähen ohne auf den schon fast aufgelösten Rasen zu treten. Nur noch ein kleines Stück. Ein Stückchen dann... “Anna?” Sie drehte ihren Kopf blitzartig zur Tür und verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte und unter den Rufen von Lukas und seiner Frau Maria, die, wie Anna erkannte, wunderschön war und im Kontrast der grellen Flurbeleuchtung zur wolkenbehangen Nacht wie ein Engel, obwohl ihre Haare grau und die Falten tief waren, aussah, landete sie unsanft auf der matschigen Wiese. “Oh mein Gott!! Kindchen, ist alles in Ordnung bei dir??” fragte Maria besorgt während sie und Lukas dem völlig durchnässten und schlammbespritzten Mädchen aufhalfen. Die Stimme eines Engels, dachte Anna und lächelte. “Es geht schon. Vielen Dank. Ich... ich wollte gerade...” “Hereinkommen?”, Beendete Lukas ihr Gestammel. “Nur wenn es keine Umstände macht. Ich meine ich war grad in der Nähe und dachte, ich schau mal kurz vorbei, aber wenn...” “Keine Widerrede”, stellte Maria klar, “Los rein mit dir und ab unter die Dusche. Ich werde dir ein paar von meinen alten Sachen geben. Aus der Zeit als Paul McCartney und die Beatles noch zusammen gehörten”, fügte sie schmunzelnd hinzu. Die drei verschwanden im Licht und die massive Holztür fiel ins Schloss.
“Es ist wirklich sehr nett von euch, dass ich hier sein darf und so...”, bedankte sich Anna nun zum 1000sten Male. “Ach was, wir sind froh, wenn ein bisschen Leben bei uns einkehrt. Wir sind nicht mehr die Jüngsten, wie du weißt, und für eine junge Frau ist es niemals gut allein am Bahnhof rum zu sitzen. Erst recht nicht an Weihnachten. Und jetzt trink deinen Tee aus und öffne deine Geschenke.” “Meine... was... Geschenke?”, fragte Anna ungläubig. “Ja, natürlich. Wir haben dich eingeladen, also bekommst du auch was geschenkt. Hier”, Maria reichte ihr ein rotes Päckchen, “hoffentlich gefällt es dir.” “Aber ich hab gar nichts für euch, ich meine...” “Ach, hör auf!! Wir sind so froh, dass du da bist, du brauchst uns keine... guck mal, es schneit!!” Anna blickte zum Fenster. Tatsächlich, dachte sie. Es schneit. An Weihnachten. Sie umklammerte ihre Tasse mit dem Apfeltee und nahm noch einen Schluck. Sie war im Hause eines Engels und es schneite. Sie lächelte. “FROHE WEIHNACHTEN, Anna” hörte sie die Stimme von Lukas, der wieder den Raum betrat. Ja, sie hatte das Wohnzimmerfenster gesehen. Aber von hier drinnen wirkte es noch viel größer, als von außen. Anna musste lachen.
Autorin / Autor: kito93 - Stand: 1. Dezember 2008