Leifas Weihnachtsgeschichte
Zehn vor vier zeigte die Uhr. Leifa ist nicht alleine. Sie hört die Schritte. Hinter ihr, und sie kommen näher und näher. Seitenstechen. Sie muss sich zwingen regelmäßig Luft zu holen. Ihre Füße hämmern auf den Boden. Weiter, weiter! Ihr Herz scheint den Brustkorb zu sprengen. Der Pullover ist zerrissen, aber das ist egal, jetzt. Tränenschleier vor den Augen. Sie weiß nicht wohin, weiß nur, dass da diese Männer hinter ihr her rennen. Ihre Stimmen noch im Kopf. Ihre Hände noch auf ihrem Körper. Sie rennt durch die schwach beleuchteten Straßen. Keiner, der ihr helfen könnte.
Der erste Weihnachtsfeiertag, denkt Leifa und im gleichen Moment wird ihr klar, dass sie gleich zusammenbrechen wird. Das Bahnhofsgebäude- verlassen. Leifa läuft weiter. Der Bahnsteig ist unbeleuchtet. Vielleicht kann sie sich verstecken... Dann entdeckt sie den schattenhaften Umriss in der Dunkelheit. Riesig taucht er plötzlich auf. Ein Zug! Das Mädchen schmeißt sich durch die Tür. Sie bemerkt nicht, wie der Zug langsam anfährt. Sie sitzt nur zusammengekauert in der Ecke. Ist niemand im Zug? Leifa steht auf. Schon wieder klopft ihr Herz. Wohin fährt der Zug?
Im nächsten Abteil sitzen drei Männer. Schüchtern setzt sich Leifa auf die andere Seite des Ganges. Draußen sieht sie Lichter. Städte und Dörfer ziehen vorbei. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie die Männer. Einer hat dunkle Haut. Das beruhigt sie irgendwie. Sie reden in einer anderen Sprache. Der Zug fährt in einen Tunnel. Leifas Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Man sieht, dass sie geweint hat. Sie genießt es sogar irgendwie, dass sie so fertig ist.
„Das bist du, Leifa“, sagt sie sich. Leifa ist nicht ihr richtiger Name. Sie hat ihn im Wörterbuch nachgeschaut. Leifa ist isländisch und heißt Rest, Übrigbleibsel. Das ist sie auch. Immer bekommt sie den Ärger. Immer ist sie die Böse. Sie fahren noch immer durch den Tunnel. Langsam kommt Leifa das komisch vor. Wo fährt der Zug hin? „D- der nächste Halt... wo ist das?“, stottert das Mädchen. Und zu ihrem Erstaunen antwortet einer der Männer. Er spricht langsam und sie hört den Akzent deutlich heraus. „Weißt du das denn nicht?“ Sie schüttelt stumm den Kopf. „Die nächste Station ist die Endstation. Sie heißt Bahnhof.“
Leifa starrt den Mann ungläubig an. Der hat sich aber schon wieder seinen Freunden zugewandt. Als der Zug seine Fahrt verlangsamt, fahren sie auch endlich aus dem Tunnel heraus. Den drei Männern folgend steigt Leifa aus dem Zug. Erst jetzt fallen ihr die seltsamen Kleider auf. Oder trugen sie vorhin nicht noch normale? Irgendwie hat sie das Gefühl die Männer schon einmal gesehen zu haben...
Sie deuten auf den Nachthimmel. Leifas Augen folgen ihren Blicken. Dort oben leuchtet ein Stern. Größer und schöner als alle anderen. Leifa fragt nicht mehr, sondern folgt den drei Weisen. Aus der Dunkelheit taucht ein kleiner Stall auf, in das goldene Licht des Sterns getaucht. Es ist warm in dem Stall, aber es brennt kein Feuer. Eine kleine Krippe mit Stroh steht da in der Mitte und ein Mann und eine Frau stehen daneben. Einen kleinen Esel kann Leifa erkennen und einen Ochsen. Sie sieht zu, wie die drei Weisen niederknien und beten. Sie sieht zu, wie sie ihre Geschenke niederlegen. Gold, Myrrhe und Weihrauch, das weiß Leifa plötzlich ohne hinzuschauen. Auch sie tritt an die Krippe und als sie das Kind darin erblickt, umspielt ein Lächeln ihre Lippen.
Es schaut sie an, mit großen Augen und das Mädchen fühlt auf einmal, dass sie nicht alleine ist, nie alleine war und es auch nie sein wird. Vorsichtig löst sie die Kette um ihrem Hals. Ein kleines Herz hängt daran. Sie kniet nieder und legt es vorsichtig zu den anderen Geschenken. Und als sie den drei Weisen wieder folgt, lächeln sie das Mädchen an. „Wir fahren jedes Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag. Wenn man so weit in der Zeit zurückreist, dann gehen immer ein paar Tage verloren, es reicht nicht, wenn wir am sechsten Januar losfahren.“
Das Mädchen ist glücklich. Bahnhof steht auf einem Schild, das kann sie gerade noch so lesen, bevor der Zug sich wieder in Bewegung setzt. Bald ist sie wieder zurück zu Hause. Und vor den Männern hat sie keine Angst mehr. Betrunkene… Sie wird ihnen bestimmt nicht wieder wie blind in die Arme laufen, nur weil sie dachte, dass niemand sie mögen würde. Im Kopf sieht sie das Lächeln wie ein Versprechen. Zehn vor vier zeigt die Uhr auf dem Bahngleis und auf einmal gehen die Straßenlaternen an.
Die nächste Adventsgeschichte lesen
Autorin / Autor: iskenski.hesteurinn - Stand: 4. Dezember 2008