Plötzlich wird Jean von Motorengeräusch aus seinen Gedanken gerissen. Es ist ein Boot, das sich dem Ufer nähert. Er sieht den blauen Rumpf und kann die weißen Buchstaben der Aufschrift erkennen: „Sauvetage du lac Léman“ – Schutzpolizei des Genfer Sees. Auf dem Deck des Schiffes stehen mehrere Personen. Einige tragen blaue Kleidung, andere rote. Die Sanitäter. Jean winkt heftig mit den Armen. Mit einer Lichthupe wird ihm geantwortet. Sie haben ihn gesehen. Das Boot kommt auf Rufnähe heran.
„Hast du den Notruf abgesetzt?“, fragt einer der Polizisten. „Ja! Hier neben mir liegt ein Mädchen, bewusstlos, sie hat schon sehr viel Blut verloren.“ „Wir werden jetzt ein kleines Beiboot ins Wasser lassen und herüber kommen.“ Jean sieht, wie ein graues Dinghy aus der Verankerung gelöst wird, auf das Wasser klatscht und von drei Personen besetzt wird. Zwei Sanitäter, ein Mann und eine Frau, dazu ein Polizist. Sie nähern sich schnell dem Ufer. Mit einem Satz ist die Notärztin an Land. Sie stellt sich Jean als Antonie Marchand vor und erkundigt sich noch einmal nach dem Zustand des Mädchens, bevor sie ihn selbst überprüft. Ihrem Kollegen, der inzwischen auch aus dem Boot gesprungen ist, teilt sie mit: „Sehr schwacher Puls, bewusstlos, starke Blutung. Verdacht auf Unterkühlung und innere Blutungen. Wir fahren sie jetzt mit dem Beiboot rüber.“
Jean fragt nach, ob er mitkommen kann. „Selbstverständlich. Oder sollen wir dich hier im Niemandsland lassen?“. Unterwegs wird Jean von dem Polizisten, der auch das Boot steuert, nach seinem Namen gefragt. Ob er das Mädchen kenne? Nein. Warum er in diesem Teil des Waldes unterwegs war,… Die Fragen kommen ihm wie ein Verhör vor. Er wirft einen Blick auf das Mädchen und fragt die Notärzte, wie es ihr geht. „Sie ist schon sehr lange bewusstlos und stark unterkühlt.“ Sie sind jetzt fast am Schiff der Wasserschutzpolizei angekommen. „Ohne deine Hilfe hätte sie wohl keine Chance mehr gehabt, zu überleben.“ Die Ärztin schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. Am Schiff angekommen, wird ihnen eine Trage heruntergereicht, auf der sie die Verletzte festschnallen und anschließend hochstemmen. Jean verlässt nach den Notärzten das Boot. Sie schieben die Trage unter Deck und schließen das Mädchen an eine Beatmungsmaschine an. In dem Raum ist es angenehm warm. Der Polizist aus dem Beiboot stellt sich doch noch als freundlich heraus: Er bringt Jean ein T-Shirt. Sein eigenes löst Nils André, der zweite Notarzt, gerade von der Wunde des Mädchens. „Wir wissen immer noch nicht wer sie ist“, hört Jean zwei der Polizisten außerhalb des Raumes sagen. Nein, das weiß er auch nicht. Noch nicht. Das Boot steuert den Genfer Hafen an.
Das Mädchen kann kaum jünger sein als Jean. Vielleicht ein Jahr, mehr nicht. Ihre Körpertemperatur betrug nur noch 35,8°C. Sie wird momentan künstlich beatmet. Bei der Wunde am Bauch handelt es sich laut Antonie Marchand um eine Schnittverletzung. „Vielleicht von einem Messer.“ Gerade laufen sie in den Hafen ein. Jean weiß kaum noch wie ihm geschieht. Sie legen an. Plötzlich sind zwei weitere Sanitäter an Bord, die die Trage hastig auf das Deck schieben. Fast zeitgleich spürt er eine Hand auf seiner Schulter. Es ist Nils André: „Du kannst mit ins Krankenhaus fahren.“ Er schiebt den Jungen in den Rettungswagen und schließt die Tür von innen. „Wir fahren in die Clinique des Grangettes“, teilt er dem immer noch verdutzt wirkenden Jean mit.
Nach einer dreiminütigen Fahrt über die Route de Chêne hält der Wagen vor dem Krankenhaus. Jean begleitet die Trage mit dem Mädchen bis zum Eingang des OP-Raumes. Dort wirft er einen letzten Blick auf ihr Gesicht und geht mit langsamen Schritten bis zur nächsten Ecke, an der er ein paar Stühle entdeckt hat. Erst jetzt kommt er dazu, seine Gedanken zu ordnen. Eigentlich wollte er nur eine größere Joggingtour machen, jetzt sitzt er, in Jogginghose und mit einem T-Shirt eines Polizisten bekleidet, im Genfer Krankenhaus. Warum hatte er eben auf dem Wasser das Gefühl, dass der Polizist ihn verhören wollte? Er geht zwar auch nicht davon aus, dass das Mädchen sich seine Verletzungen selbst zugefügt hat, aber wieso wird er verdächtigt? Das ergäbe doch gar keinen Sinn, er kennt das Mädchen doch nicht. Vielleicht hatte der Polizist auch gar nicht die Absicht gehabt, ihn auf diese Art und Weise zu befragen, sondern es war bei ihm nur so angekommen. Wahrscheinlich bildete er sich alles nur ein.
Der Flur ist menschenleer. Die Neonröhren an der Decke spiegeln sich in dem hellen Linoleumboden. Es herrscht eine trostlose Atmosphäre, die nur ab und zu durch das aufmunternde Lächeln einer vorbeieilenden Krankenschwester erhellt wird. Jean fühlt sich einsam und verlassen. Er beschließt seine Eltern anzurufen, damit sie sich keine Sorgen um ihn machen. Wie immer wenn er an sie denkt, beschleicht ihn ein beklemmendes Gefühl. Seit der Geburt der Zwillinge hat sich sehr viel verändert, wenn auch nicht ausschließlich zum Negativen, aber das Verhältnis zu seinen Eltern ist anders geworden. Er beendet das Gespräch so schnell wie möglich und lässt sich erneut auf einem der unbequemen Stühle des Warteraumes nieder. Eine Stunde lang wartet er jetzt schon. Die Notärzte haben das Krankenhaus inzwischen längst wieder verlassen. Jean hört sich nähernde Schritte. Es sind zwei Beamte der schweizerischen Kriminalpolizei, die ihn zu dem Auffinden des Mädchens befragen. Es ist kein Verhör, nur einfache Fragen. Aber auch diese Polizisten vergewissern sich, ob er das Opfer wirklich nicht kennt. Sie entfernen sich recht schnell wieder, um einen Arzt aufzusuchen, der ihnen eine ausgiebige Auskunft über das Befinden des Mädchens geben kann. Jean bleibt allein zurück.
Autorin / Autor: Lina Rixgens - Stand: 17. Februar 2009