Wassergrab - Teil 6

von Lina Rixgens

Bild "Boat II" von biloba; Quelle: photocase.de

Sie hat jedes Wort der Frau gehört. Es waren beruhigende Worte. Worte, die ihr erklärt haben, was passiert ist. Worte, die sie dazu gebracht haben, zurückzukehren. Sie öffnet die Augen und sieht die Frau zur Tür gehen. Diese dreht sich noch einmal um und schaut ihr direkt in die Augen. „Lauren?“. Woher kennt sie meinen Namen? Überhaupt, wo bin ich hier? „Ich heiße Marie Eustmundt und bin von der Polizei. Du bist in einem Krankenhaus und warst sehr lange bewusstlos.“ „Was ist passiert?“, lässt sich die schwache Stimme Laurens vernehmen. Gerade als die Kommissarin zu einer Erklärung ansetzt, geht auf dem Flur eine Krankenschwester entlang und bleibt erschrocken vor dem Raum stehen, in dem sich eine Frau mit einem sich eigentlich im Koma befindenden Mädchen unterhält.

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Ein anderer Arzt betritt das Zimmer. Marie Eustmundt wird hinausgeleitet und verlässt, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Krankenhaus. Laurens Frage hallt in ihrem Kopf wider: Was ist passiert? Es war das Einzige, was das Mädchen gesagt hat. Sie hatte erschöpft und kraftlos geklungen. Ob Lauren mitbekommen hat, was sie ihr berichtete? Marie hält ihr Versprechen und ruft Jean an, um ihm mitzuteilen, dass Lauren aufgewacht ist.

Am nächsten Tag besucht sie Lauren, nachdem sie sich bei dem Dienst habenden Arzt erkundigt hat, wie es ihr geht. Die fünfzehnjährige liegt nicht mehr auf der Intensivstation, die Kommissarin darf aber trotzdem nur zehn Minuten lang zu ihr. Ihre Eltern und ihr kleiner Bruder waren am Morgen schon da. „Hallo Lauren!“. „Hallo!“. Ein müdes Lächeln legt sich auf ihr Gesicht. „Ich habe gehört, was Sie mir gestern erzählt haben.“ Es entsteht eine Pause. Marie Eustmundt wartet. „Aber was ist davor passiert?“, fragt Lauren. „Ich weiß es nicht. An was kannst du dich erinnern?“.

Die Kommissarin merkt, dass Lauren das Gespräch anstrengt: „Sollen wir eine Pause machen?“. „Nein… Ich war segeln. In Frankreich, Aix-les-Bains. Beim Summer Trophy. Es war der erste Wettfahrttag. Ich glaube, wir sind zwei Rennen gesegelt.“ „Kannst du genauer erzählen, was auf dem Wasser passiert ist?“. „Ich bin raus gefahren mit meiner Gruppe. Unser Trainer hat uns mit seinem Motorboot geschleppt, weil kaum Wind war. Wir haben uns zusammen eingesegelt. Dann war der erste Start. Ich bin als fünfte ins Ziel gekommen. Der Wind wurde immer weniger. Die zweite Wettfahrt habe ich gewonnen. Dann, nachdem ich zu meinem Trainer gefahren bin, habe ich an einem anderen Boot angelegt.“ „Warum hast du das gemacht?“.

„Auf dem Boot war jemand, ein Mann. Er hat mich gerufen und gesagt, er sei von der Presse und möchte einen Artikel über die Regatta schreiben. Und da der Wind nun komplett einschlief und somit bis zum nächsten Start genug Zeit war, habe ich dem zugestimmt. Ich habe sein Boot schon während der Regatta gesehen. Er hat hektisch um sich blickend etwas Schweres ins Wasser hinab gelassen und anschließend seelenruhig seine Angel ausgeworfen. Ich war neugierig.“ Lauren scheint Kraft zu sammeln. „Er war kein Journalist und wollte mich auch nicht interviewen. Ich weiß nicht was er wollte, aber ich bekam auf einmal Angst und wollte wegfahren, doch er hielt mich fest. Der Mann sagte nichts. Ich sah das Boot meines Trainers. Er wartete auf die anderen aus meiner Gruppe.

Ich wollte schreien, doch von hinten presste der Mann mir ein Tuch auf Mund und Nase. Ich habe versucht nicht einzuatmen, aber irgendwann ging es nicht mehr. Ich wusste, dass ich eigentlich nicht mehr merken konnte, wo ich danach war, weil ich bestimmt bewusstlos war, aber ich merkte trotzdem, wie ich in eine andere Welt glitt, in ein bodenloses Nichts.“ Die Kommissarin spürt, wie aufgebracht Lauren jetzt ist und weiß, dass es an der Zeit ist, zu gehen. „Danach kann ich mich nur noch an Ihre Stimme erinnern. Und dann bin ich aufgewacht.“ „Ich werde diesen Mann finden, das verspreche ich dir.“ Die Kommissarin steht auf und fügt hinzu: „Ich komme morgen wieder, in Ordnung?“. Ein schwaches Nicken. „Bis Morgen…danke!“. Marie Eustmundt lächelt und verlässt das Zimmer.

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Etwa drei Stunden später wird die Tür dieses Zimmers erneut geöffnet und ein Junge mit kurzen schwarzen Haaren und ernsten, aber freundlichen grau-braunen Augen betritt den Raum. Jean bringt ein schüchternes „Hallo!“ zu Stande, das von Lauren leicht ermattet erwidert wird. Sie möchte genau wissen, was passiert ist, nachdem Jean sie gefunden hat. Und Jean erzählt. Anfangs noch stockend, verlegen, schließlich immer mutiger. Wenn sich ihre Blicke treffen, durchläuft Lauren ein prickelndes Gefühl. Angenehm warm rieselt es ihr den Rücken hinunter. Dieser Schweizer hat eine intensive Ausstrahlung. Schüchtern, aber doch offen. Eine Krankenschwester öffnet die Tür und signalisiert Jean, dass die Zeit des Besuches zu Ende ist.

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Drei weitere Tage vergehen.

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Autorin / Autor: Lina Rixgens - Stand: 24. Februar 2009