Bevor ich Celine entführe, muss ich mich an meinen Bruder wenden. So weh es tut, dass er sich strafbar macht, es muss sein. Ich klopfe an seiner Tür. Das passiert höchstens alle 3 Jahre, denn normalerweise gehe ich ihm aus dem Weg. Manchmal ist er ganz schön gemein, hoffentlich hat er gerade gute Laune. „Herein!“ Ich atme noch einmal tief durch und trete ein. „Hi. Äh... also... könntest du mir bitte einen Gefallen tun?“ Lars guckt überrascht. Das ist ja noch nie vorgekommen! Das Schwesterchen bittet ihn um etwas! Nicht zu fassen... „Worum geht’s denn?“
Ich wusste, dass er fragt. Nun ist es eh zu spät. Ich erzähle ihm von meinem Leiden, meinen Taten und meinem Vorhaben: „......und jetzt ist Celine dran. Ich... nun ja... wollte sie eigentlich... Komm mal näher ran.“ Ich riskiere es besser nicht, meine Absicht allzu laut zu äußern, meine Eltern haben ihre Ohren überall. Er hält mir seins hin. Schnell flüstere ich meine Idee hinein. Seine Augen werden immer größer, und als ich fertig bin, sagt er: „Schwesterchen, so etwas Grausames und Kriminelles hätte ich nicht von dir erwartet. Alle Achtung! Was du brauchst ist Arsentrioxid. Das führt zu bösartigen Geschwülsten, Erbrechen, Durchfall, langsame Körpertemperaturabnahme und schließlich dazu, dass man abkratzt. 0,1g sind tödlich. Du könntest es dieser Kröte unters Essen mischen.“ Bei diesem Gedanken tritt ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht. „Kannst du mir das Zeugs besorgen?“
Er guckt konzentriert, kratzt sich übertrieben lange am Kopf und sagt dann feixend: „Ja... schon. Aber dafür habe ich was bei dir gut!“ Ich lächle erleichtert. „Ja klar, danke. Wann wirst du das Arsentrioxid haben?“ „Wann brauchst du’s denn, Schwesterherz?“ Er grinst verschmitzt. In seine Augen tritt ein eigenartiger Glanz. „Allerspätestens 3 Tage vor meinem Geburtstag. Also in... Moment... 8 Tagen. Ist das machbar?“ Er hebt beide Augenbrauen und tut so, als würde er scharf nachdenken. Lars kratzt sich abermals am Kinn und am Kopf und bringt tatsächlich eine Antwort zustande. Mein Bruder will mich mit dieser Aktion bloß ein bisschen zappeln lassen. „Äh... Mann, na klar geht das. Dazu muss man nur die richtigen Leute kennen.“ „Und wie viel wird dich das kosten? Ich meine, das Geld zahle ich dir natürlich zurück. Nur damit ich weiß, ob ich zur Bank rennen muss.“ „Darüber reden wir, wenn’s geklappt hat.“ „Okay, na dann... und noch mal danke.“ „Ciao! Keine Ursache.“ Ich schließe die Tür von außen. Heute hat Lars wohl einen guten Tag. Sonst ist er nicht so freundlich. Zumindest nicht zu mir. Gut. Das wäre geschafft.
Nur vier Tage später steht Lars vor meiner Tür. Er grinst und seine Augen funkeln aufgeregt. „Ich habe da was für dich.“ Mein Bruder lässt einen kleinen Plastikbeutel mit weißem Pulver in meinen Schoß fallen. „Das ging ja schnell.“ „Wie gesagt, Schwesterchen, man muss nur die richtigen Leute kennen, dann ist alles möglich.“ Ich frage besser nicht, wo er das Arsentrioxid her hat. „Okay, danke.“ „Bedank dich doch nicht ständig, einmal reicht voll und ganz. So, dann mal viel Spaß!“ Er grinst mich ein letztes Mal vielsagend an, und weg ist er.
Ich schiebe das Päckchen hinter mein Bett und begrabe es zusätzlich unter Kuscheltieren. Alles bestens. Doch plötzlich fällt mir ein: Wie soll ich Celine in den Keller bekommen? Vielleicht hilft mir Lars ja noch einmal. Ich klopfe an seiner Tür. „Wer stört?“ Na das kann ja heiter werden. Trotzdem drücke ich die Klinke runter und trete ein. Er kreiselt auf dem Drehstuhl in meine Richtung. „Ach, du. Was `n nun schon wieder?“ Ich zögere. Bis wohin kann ich meinen Bruder in die ganze Geschichte mit einbeziehen? Wo ist die Grenze? Ab wann macht er sich mit strafbar? Jetzt ist eh alles zu spät, das hätte ich mir überlegen sollen, bevor ich klopfe. „Ich wollte dich noch mal was fragen...“ „Ich bin ganz Ohr.“ Lars verschränkt die Arme vor der Brust und guckt gespannt.
„Also... ich habe noch keinen Plan, wie ich Celine in den Keller bekommen soll.“ „Brat ihr eins über, stecke sie in den alten Kartoffelsack und lass sie ersticken, verhungern und verdursten. Punkt. Wo ist das Problem?“ Fragend hebt er eine Braue. „Haha, deinen Sarkasmus kann ich jetzt nicht gebrauchen. Mal im Ernst, ist das nicht ein bisschen auffällig? Jemand mit einem zappelnden Sack über der Schulter, der im Keller verschwindet? Hast du nicht nen besseren Vorschlag?“ Er kratzt sich über seinen Dreitagebart. Keine Ahnung, ob das hilft, aber ihm scheint eine Idee gekommen zu sein. „Äh... Dich kennt sie ja, oder?“ Ich nicke: „Vom Sehen, aber nicht näher.“ „Gut, dann dürfte sie nichts davon wissen, dass ich mit dir gewissermaßen verwandt bin. Ich könnte doch den Lockvogel spielen, wenn du mir ein Bild von ihr zeigen kannst. Was hältst du davon?“ „Du wirst lachen, ich habe tatsächlich ein Bild!“ Schnell hole ich mein Handy. Irgendwann habe ich mal aus Langeweile unseren Schulhof fotografiert und dabei zufällig Celine mit aufs Bild bekommen. „Okay, jetzt dürfte ich sie erkennen.“ „Und wie willst du den Lockvogel spielen?“ „Hhm... Lass dich überraschen!“ „Ich hasse diese Geheimnistuerei!“ „Tja, wozu bist du meine Schwester geworden? Irgendwen muss ich ja ärgern.“ „Typisch du.“ Er grinst. „Nun aber, husch, husch, raus!“ Das lasse ich mir besser nicht zweimal sagen, sonst fällt ihm noch irgendeine Gemeinheit ein. Aber halt: „Wann, denkst du, wirst du sie dazu gebracht haben, in den Keller zu gehen?“ Lars guckt so, als wolle er wieder lass dich überraschen sagen, aber das scheint ihm dann doch eine ganz wichtige Information zu sein: „Was hältst du von morgen nach der Schule?“ „Perfekt.“ „Ich werde sie dann abholen. Tu aber so, als würdest du mich nicht kennen.“ „Geht klar.“ Maria hat Lars zum Glück auch noch nie zu Gesicht bekommen. Das dürfte also kein Problem werden. Ich werde ganz gemütlich mit ihr nach Hause gehen und mich dann ihrer hoffentlich schon im Heizungskeller verfrachteten Freundin widmen. Wunderbar, jetzt kann so gut wie nichts mehr schief gehen.
Autorin / Autor: Anne-Katrin Kreisel - Stand: 9. März 2009