Der Rückblick
Wettbewerbsbeitrag von Aesys, 20 Jahre
„Sich zu beweisen, bedeutet sich zu stellen. Bist du dazu fähig?“ Die Stimme ist ernst. Ein Nicken meinerseits. Ein lautes Geräusch ertönt, aber nur kurz. „Nun soll es so sein. Begebe dich in den Flur und folge ihm. Am Ende sollte sich ein Raum befinden, in welchem du empfangen wirst. Verstanden?“ Wieder ein Nicken. An der kahlen Wand öffnet sich an einer Stelle eine Öffnung, wahrscheinlich eine Tür. Einfach weitergehen. Gesagt, getan. Ich betrete den Flur und die Tür ist nicht mehr da. Keine Öffnung, die zurückführt. Es gibt nur eine Richtung, in die ich gehen kann: nach vorne. Ich gehe den Flur entlang und schaue mich um. Nichts.
Aber in der Entfernung erkenne ich Bilderrahmen, große sogar. Ich beschleunige meine Schritte ein wenig, um mir den Inhalt der Bilderrahmen zu erkennen. Ein Baby. Ich suche nach einem Titel und finde nichts. Ich gucke mir das Baby nochmals an, diesmal genauer, jedoch ohne Erfolg. Es ist mir nicht bekannt.
Ich gehe weite und erkenne den nächsten Bilderrahmen. Wieder ohne Titel. Wieder ein Baby, aber es scheint, als sei es gewachsen. Es lächelt. Woran es wohl denken mag? Ich streiche mit meinen Fingern vorsichtig über das Bild, genaugenommen das Lächeln, und gehe weiter.
Der nächste Bilderrahmen. Das Bild zeigt den ersten Geburtstag des Kindes. Es ist eine pinke Torte. Mit ihrem Namen. Das Kind lächelt auch in diesem Bild. Im Hintergrund hängen bunte Girlanden und helle Luftballons. Aber wen interessiert der Hintergrund, wenn das Kind doch so viel mehr an Bedeutung hat? Es lächelt oder lacht. Das indiziert, dass es wahrscheinlich glücklich ist. Diese verdammten Ärsche.
Ich gehe weiter. Der nächste Bilderrahmen. Kein Titel. Es ist zu sehen das gewachsene Kind, zwei Spielzeuge und ein Mann, dessen Hand ausgestreckt ist. Er fordert etwas. Eines der Spielzeuge, um genau zu sein, das Auto. Mehr ist nicht zu sehen. Ich gehe weiter. Das nächste titellose Bild mit Kind. Es ist wieder ein bisschen gewachsen. Es trägt ein Kleidchen und hat zwei Zöpfe. Es hält zwei Hände fest, links und rechts jeweils eine. Bei genauerem Hinsehen, bemerkt man kleine Wunden im Gesicht und es lächelt nicht. Es sieht so aus, als würde es kurz vorm Weinen sein. Vielleicht hat es sich mit den anderen gestritten und musste ein Bild mit ihnen machen. Es sieht nicht zufrieden aus. Vielleicht hat es auch Ärger bekommen. Man weiß es nicht.
Ich wende mich ab und begebe mich zum nächsten Bilderrahmen. Es ist wieder gewachsen, sieht jetzt aus wie 6 Jahre. Ist groß geworden. Die Haare sind lang und in einem Zopf zusammengebunden. Es hat eine Hose und ein Shirt an. Aber hier ist noch jemand anderes zu sehen. Ein anderes Kind mit kurze Haaren. Es hat ein Kleid an. Sie halten sich gegenseitig fest und drücken ihre Wangen aneinander. Beide strahlen wie Sonnen in die Kamera. Sie sehen sehr glücklich aus. Oh. Der Hintergrund in diesem Bild ist verschwommen. Ich gucke, ob hier eventuell ein Titel steht, aber vergeblich. Ich gehe weiter.
Der nächste Bilderrahmen zeigt das Kind mit einer Schere in der Hand, einem Grinsen auf dem Gesicht und bisschen kürzeren Haaren. Ein weiteres Bild ist zusehen. Das Kind hat Tränen in den Augen. Das Grinsen ist verschwunden. Und die Schere ist zerstört. Das ist kein schöner Anblick. Ich gehe schnell weiter.
Ich gehe nur, ohne einen Bilderrahmen in Sicht. Sind wir fertig? Nein. Die Bilder hängen nicht mehr an den Wänden, sondern liegen auf dem Boden. Der Boden ist belegt mit vielen Bildern. Anfang der Pubertät. Neue Klamotten, die dem Körper angepasst sind. Erster Kuss. Erste Beziehung. Erster Herzschmerz. Erster wirklicher Streit. Neue Menschen. Neue Freundschaften. Gemeinsame Aktivitäten. Gute Freunde. Ein Kind ist mehrmals auf den Bilde zu sehen. Es ist das Kind mit den kurzen Haaren, das das Kleid getragen hatte. Die beiden haben anscheinend sehr viel miteinander zu tun… ich gehe langsam weiter und gucke mir die Bilder an. Es sind viele Gesichtsausdrücke und die unterschwelligen Emotionen. Freude, Trauer, Wut, Ekel, Angst, Lustlosigkeit, Langeweile, Ernst, Zwiespalt. So viele Ausdrücke für so einen jungen Mensch. Die kleinen Bilder kommen zu einem Stopp. Mein Blick richtet sich nach oben und ich erblicke wieder einmal einen Bilderrahmen. Eine Nachricht und ein Bild. Die Nachricht hat dunkle Flecken und Wölbungen. Ich lese es mir durch. Mir kommen die Tränen. Ich lasse es zu, halte nichts zurück. Ich lasse mich gegenüber des Bildes fallen und heule. Laut. Ohne Scham. Mein Atem beschleunigt sich. Ich verliere jeden Fokus. Ich bin am Boden. Allein. Einfach… weitergehen… Ich möchte nicht weitergehen. Das Bild zeigt den jungen Menschen, der einst kurze Haare hatte, mit längeren Haaren. Es trägt ein wunderschönes Kleid und ist ein bisschen geschminkt. Ein ehrliches Lächeln ziert das Gesicht. Bezaubernd. Anmutig. Atemberaubend. Ich bin im Anblick derer gefangen und möchte nicht entkommen. Aus Angst zu vergessen. Aus Angst gehasst zu werden. Aus Angst verurteilt zu werden. Aus Angst weiterzugehen. Aber ich muss.
Ich gehe weiter mit Tränen, die meine Wangen hinunterlaufen. Aus der Entfernung erkenne ich noch drei Bilderrahmen.
Das erste zeigt den jungen Menschen und wie er mit dem Verlust umgeht. Es ist ein herzzerreißendes Anblick. Ich gönne der Person die Privatsphäre und gehe weiter.
Als nächstes ist zu sehen, wie der junge Mensch an einem Grabstein einen Brief hochhält. Der junge Mensch lächelt, aber trotzdem laufen Tränen die Wangen runter. Man erkennt nicht, welcher Name auf dem Grabstein steht. Es liegen sehr viele Blumen vor jenem Grabstein. Jedoch befindet sich hier kein Titel.
Ich gehe weiter. Und bleibe stehen. Der letzte Bilderrahmen ist leer. Huh? Mein Blick richtet sich nach unten und dort erblicke ich einen Stift mit einer kleinen Notiz. „Was soll hier gesehen werden?“ Ich überlege ein bisschen.
Ich habe es bis zum Ende des Anfangs geschafft. Jetzt beginnt mein neuer Anfang. Ich wünschte, du könntest es sehen und auch erleben…
Ich lege den Stift wieder hin, gehe ein paar Schritte zurück und betrachte mein Werk. Ich drehe mich nach vorne um und sehe das Ende des Flures. Ein letztes Mal blicke ich durch den langen Gang hinter mir und setze eine Fuß nach dem anderen, um diesen Flur zu verlassen.
Es ist hell. Ich halte mir die Hand vor die Augen. „Willkommen“ Eine fröhliche Stimme empfängt mich. Aus meinem Mund kommen keine Worte, weswegen ich nur nicke. „Konntest du dich stellen?“, werde ich gefragt. Wieder einmal nicke ich. „Okay, dann bitte ich um eine Unterschrift, dann können wir sofort beginnen!“ Ich unterschreibe das letzte Papier und lege mich hin. „Wir sehen uns später.“ Mir wird zugezwinkert. Meine Augen fallen zu.
Ich öffne meine Augen langsam und werde begrüßt. „Es freut mich dich kennenzulernen. Ich bin Dr. Hahn. Und du bist?“ Ich lächle und antworte: „Es freut mich auch dich kennenzulernen. Ich bin Nathan.“
Ellie, ich habe es geschafft!!!
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Verwandelbar - Die Lesung
Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.
Autorin / Autor: Aesys, 20 Jahre