Plötzlich blieb es einfach stehen. Mein Auto, gerade einmal zwei Jahre alt, es schaltete sich grundlos aus. Ich probierte mehrmals, den Motor neu zu starten, doch jeder Versuch verging mit einem grässlichen Geräusch. "Was ist das denn?", schimpfte ich so ratlos wie genervt. Ich hatte doch nur für ein Wochenende aus dem Alltag fliehen wollen, in ein idyllisches Ferienhaus an einem See. Ich brauchte mal wieder eine kleine Freude im Leben. Sicher, ich hatte gerade die ersten Semester meines Jurastudiums sehr erfolgreich gemeistert und wollte bald zu meinem frisch Verlobten in seine Villa mit Pool und eigener Bar ziehen, aber die Termine bei Steuerberater und Hochzeitsplanerin waren schlichtweg zu viel Stress gewesen. Wie auch immer.
Aber nun? Nun stand ich da, mitten im Wald, wo ich mich eigentlich nur auf der Durchreise befunden hatte, mit einem kaputten Auto. Mehr Stress hätte es wohl kaum geben können. Genervt nahm ich mein Handy aus der Handtasche und drückte den Einschaltknopf. Das Display blieb schwarz. Mist, ich hatte nicht auf den Akku geachtet, es war doch immer eine Steckdose dagewesen. Welch eine Zumutung! Außerdem fehlte mir ein Orientierungspunkt. Verzweifelt lief ich in alle Richtungen, doch nirgends gab es einen Wegweiser, geschweige denn eine größere Straße. Dieses Waldstück war einsam und abgelegen, die Bäume standen dicht an dicht. Aber die Route war kürzer als über die Hauptstraße, darum hatte ich sie genommen. Das stand mir doch wohl zu, warum war sie denn nicht beschildert?
Ich rannte immer schneller immer weiter, suchte doch bloß einen Wegweiser. Die Wege schienen nur stetig enger und dunkler zu werden, der Wald glich einem Labyrinth. Schließlich stoppte ich, ließ mich zu Boden fallen und schnappte nach Luft. Ich wusste nicht mehr, wo ich hergekommen war oder wo ich hinwollte, kniete abseits jeden Asphalts auf einem Trampelpfad. Mein schönes, großes Auto, ich hatte es verloren. Ich hasste diesen „Urlaub“. Warum hatte ich mich jemals aus meiner bequemen Stadt entfernt? Dort konnte man Taxis rufen, und nun hetzte ich hier durch den Wald wie ein Tier, es war unwürdig. Meine Haare waren schon zerzaust und mein Mascara sicherlich verschmiert. Mir fehlten Essen, Trinken, Wärme, mir fehlte eine Verbindung zum Rest der Welt.
Als ich endlich wieder aufschaute, bemerkte ich einen Baumstamm, an dem ein blassroter Pfeil klebte, er zeigte von mir weg den Pfad entlang. Mit einem Mal verblasste auch meine Verzweiflung und ich lief gespannt zu der Markierung am Wegesrand. Die Schrift darauf war jedoch ausgeblichen und unlesbar. Ohne jegliche Ahnung, wohin der Pfeil zeigte, nahm ich ihn als Zeichen, weil er in meiner Lieblingsfarbe dastand, und folgte seiner Ausrichtung. Was blieb mir anderes übrig, als mich an eine Farbe zu klammern? Nach einiger Zeit fand ich einen weiteren Pfeil, und diesmal konnte ich die Zeichen darauf entziffern: Losseldorf 28 km. So weit? Warum war denn hier alles so weit entfernt?
Schwitzend schlurfte ich den Weg entlang. Zwar hatte ich nun ein Ziel, nicht aber das Gefühl voranzukommen. Der Schmerz in meinen Fußsohlen breitete sich mit und mit bis in meine Oberschenkel aus. Ich hatte sicher seit Stunden nichts mehr getrunken oder gegessen, und mein Kopf begann zu pochen. Langsam verlor ich den Glauben daran, dass ich schwacher, naiver Stadtmensch es alleine aus diesem Wald schaffen würde, als ich plötzlich rubinrote Walderdbeeren abseits des Weges an einem kleinen Bach, der glitzerte wie Brillanten, bemerkte. Der Fund war kostbar wie Juwelen für mich, sofort rannte ich zu der Stelle. Ich aß und die Früchte schmeckten besser als jeder Kaviar. Bei weitem stillten sie nicht meinen Hunger, doch sie nährten meine Hoffnung. Auch trank ich bereitwillig aus dem Bach, wenngleich er nicht sehr sauber war. Ich spürte endlich wieder Leben durch mich fließen. "Danke", flüsterte ich zwischen den Schlucken verhalten in den Wald.
Mit neuer Hoffnung trat ich zurück auf meinen Weg und wanderte ihn weiter entlang. Ich wusste nicht, für welche Zeit oder ob ich noch auf der richtigen Route war, aber irgendwie konnte ich inzwischen mit der Unsicherheit leben. Allmählich wurde es Abend. Ich begann zu zittern, konnte kaum noch etwas sehen - wer weiß, was im Dunkel lauerte? Immer schneller atmete ich ein und aus. Ich fühlte mich wieder allein gelassen und hilflos, doch bevor ich schreien oder weinen konnte, erblickte ich einen Lichtschimmer etwas abseits des Weges. Ich ging vorsichtig darauf zu und erkannte eine Lichtung, durch die der feuerrote Sonnenuntergang in den Wald einbrach. Licht und Wärme seiner malerischen Flammen vertrieben bald meine Angst. Der Anblick dieses wunderschönen Abendhimmels übertraf jedes teure Gemälde, jeden Ausblick, den ich je auf Instagram beneidet hatte. Ich war so müde und dieser Ort lud förmlich zur Rast ein, also ließ ich mich erschöpft unter einem starken Baum am Rande der Lichtung zu Boden sinken. Erst kam es mir selbst absurd vor, wie beruhigt ich mich dort hinlegen konnte. Der Waldboden war unbequem, ich dreckig und allein, doch ich hatte alles gefunden, was ich brauchte. Und es war alles in meiner Farbe gewesen, als hätte der Wald es mir persönlich gegeben. "Gute Nacht", wisperte ich lächelnd empor.
Geweckt wurde ich vom strahlenden Morgenrot des Sonnenaufgangs. "Guten Morgen, Wald", rief ich voller Elan. Meine Stimme war heiser, doch das bremste mich nicht. Trotz der Schmerzen in meinen Beinen machte ich mich leichten Fußes wieder auf. Ich folgte treulich meinem Weg, lief an Mohnblumen vorbei und lauschte den Rotkehlchen. Der Pfad wurde zu einer breiten Waldstraße, die Baumkronen lichteten sich und zum Vorschein kamen Wolken, die einen zarten Rotschimmer trugen. Mehr brauchte ich nicht, um Kraft zu schöpfen. Ich genoss jeden Schritt und bald sah ich gar nicht weit vor mir ein uriges Waldhaus, geschützt von einem rostroten Zaun. Vor dem Zauntor hatten Kinder mit rosa-roter Kreide groß "Willkommen" aufgemalt. Ich grinste, sah die Welt in diesem Moment durch eine rosa-rote Brille. Mein Anblick muss schrecklich gewesen sein, ich hatte Hunger, Durst und Blasen an den Füßen, doch ich klingelte voll Zuversicht an der Haustür und eine Frau mittleren Alters öffnete. "Ja bitte?", fragte sie. "Verzeihen Sie die Störung", bat ich lächelnd, "Ich bin während einer Wanderung vom Weg abgekommen und... Wäre es möglich, dass ich von hier aus meinen Freund anrufe?" Die Dame musterte mich kurz, bevor sie ebenfalls lächelte: "Sicher, kommen Sie rein."
"Wir haben uns solche Sorgen gemacht, als du dich plötzlich nicht mehr gemeldet hast!", rief mein Freund aufgebracht, "Und was für eine Geschichte du da erzählst! Das war's dann wohl mit dem entspannten Urlaub!" Ich musste lachen. "Es war ein schöner Urlaub", entgegnete ich, während ich mir das purpurrote Telefon ans Ohr hielt. Ich fühlte mich demütig wie im Angesicht eines Königs. Ich hatte es endlich geschafft. Ich hatte es geschafft, das Schöne im Leben zu finden. Jeder Rotton würde ein Souvenir sein.