Unter meinen Füßen knirscht der Untergrund, auf dem ich mit langsamen Schritten vorwärts gehe. Wer hätte gedacht, dass es so viele Geräusche machen würde, auf Asche zu laufen. Fast glaube ich zu sehen, wie noch Rauch aufsteigt, als ich das Grundstück vollends betrete und auf die Trümmer des Gebäudes hinunterstarre, das hier einmal erbaut wurde. Irgendwie surreal, dass ein riesiges Einfamilienhaus mit drei Stockwerken einmal zu nichts mehr als einem Haufen Asche niederschmelzen konnte. Gerade will ich wieder umdrehen, gehen, diesen Ort verlassen, der mich nur unerträglichen Schmerz fühlen lässt, als ich genau in der Mitte des fast perfekten Vierecks aus kläglichen Überresten etwas entdecke, das nicht vom Feuer vollständig zerstört wurde. Mit diesmal schnelleren Schritten überwinde ich die wenigen Meter bis zu dem Gegenstand, der mich aus irgendeinem Grund davon abgehalten hatte, zu flüchten. Ich bücke mich, stütze meine Hand auf meinem Knie ab und strecke die andere nach dem Objekt aus. Wie durch einen Filter sehe ich, wie eben diese Hand anfängt zu zittern. Was ist mit mir los? Schnell presse ich die Hand zwischen Oberkörper und Knie, um das Zittern abzuwürgen, doch stattdessen schleicht es sich nun meinen ganzen Körper herauf. Gebannt starre ich auf den Gegenstand, unfähig, mich zu bewegen oder wenigstens wegzusehen. Wie kann es sein, dass jeder noch so teure Gegenstand in diesem Haus zu einem Nichts zerfallen ist und diese kleine Modelleisenbahn, die ich einem kleinen Jungen auf dem Flohmarkt für weniger als fünf Euro abgekauft hatte, hier lag, auf diesem Haufen aus Schutt und Asche, der mal mein Zuhause gewesen war, und keinen einzigen Kratzer aufweist?
Plötzlich ist es, als zoome mein Gehirn ran an diesen Gegenstand und auf einmal höre ich das Lachen meiner Tochter in meinen Ohren.
„Papa“, ruft sie, rennt auf mich zu und mit der Unbedachtheit eines Kindes, wirft sie sich in meine Arme, obwohl diese voller Einkaufstaschen sind.
„Hallo, meine kleine Prinzessin“. Ich streiche ihr über das Haar.
„Schau mal, was ich dir mitgebracht habe“, sage ich und hole aus einer der Taschen die kleine schwarze Eisenbahn.
Als meine Tochter sie sieht, reißt sie die Augen auf und beginnt, über das ganze kleine Gesicht zu strahlen.
„Eine Eisenbahn!“, ruft sie und dreht sich sofort zu ihrer Mutter um, die bis zu diesem Zeitpunkt still an den Türrahmen des Wohnzimmers gelehnt hatte. Ich gehe zu ihr und kneife sie in die Seite. Meine Lippen berühren ihre und ihr Lachen vibriert durch meinen ganzen Körper.
Ich schnappe nach Luft. Ich kann hier nicht sein. Wie hatte ich denken können, ich könnte hier sein? Meine Finger krallen sich um die Modelleisenbahn, ich springe auf, taumle auf der Stelle und meine fast, wieder hinzufallen. Doch ich bleibe stehen. Ich muss stehenbleiben, auch wenn meine Welt wankt und taumelt. Ich mache einen hektischen Schritt zur Seite, das Bild eines Kaminfeuers und einer Decke davor blitzt in meinem Kopf auf. Meine Tochter sitzt auf dieser Decke und fährt unermüdlich ihre Spielzeugeisenbahn den Streifen der Decke entlang vor und zurück. Vor und zurück.
Ich wanke auf mein Auto zu, stolpere über die Reste unseres Schlafzimmers und sehe Leonas grüne Augen. Wir liegen zwischen tausend Kissen an einem Sonntagmorgen in unserem Bett, geben uns einen Kuss und da frage ich sie, ob sie meine Frau werden will. Einfach so. Für den Rest meines Lebens...
Meine Sicht ist verschwommen. Ich wundere mich wieso, doch dann merke ich, dass ich weine. Es ist ein vertrautes Gefühl, die warmen Tränen auf der Wange zu spüren. Ich krame nach meinen Autoschlüsseln, taste blind nach dem Griff der Fahrertür und reiße sie auf, nachdem ich ihn gefunden habe. Genauso plötzlich, wie ich im Wagen sitze, überwältigt mich der Geruch, der sich in ihm festgesetzt hat. Leona und Mimi. Meine Familie. Hier riecht es nach Familie. Meine Finger krallen sich um das Lenkrad, meine Zähne sind so fest zusammengepresst, dass es wehtut und trotzdem ist der Schmerz nicht einmal annähernd so überwältigend, wie der, den ich seit zwei Wochen spüre. Ich kann nicht aufhören, zusammenzubrechen bei jedem bisschen Leona und Mimi, auf das ich stoße. Ich kann nicht aufhören, mich selbst zu peinigen, indem in meinem Kopf ein einziger Satz unendliche Kreise zieht.
Sie sind tot. Sie sind tot. Sie. Sind. Tot.
Und es tut so weh. Es tut so weh. Aber auf einmal macht sich ein neuer Schmerz in mir breit. Ich fühle es sofort. Es ist ein bisschen so, als wäre ich in den letzten zwei Wochen zum Schmerz-Experten geworden. Meine ganze Welt ist auf dieses eine Gefühl heruntergebrochen. Ich fühle keine Trauer. Ich weine nicht, weil ich traurig bin, nein, ich breche zusammen, weil alles in mir zerreißt. Und als ich jetzt die Augen öffne und auf meine Hände starre, die immer noch um das Lenkrad gekrallt sind, sehe ich Blut. Daher kommt der neue Schmerz. Ich halte die kleine schwarze Modelleisenbahn so fest umklammert, dass sie in meine Handflächen schneidet. Ich atme tief ein und aus und drücke auf den kleinen Knopf, der sich am linken Vorderrad des ersten und einzigen Waggons befindet. Flackernd und schwach gehen die Scheinwerfer der Eisenbahn an und ein unterdrücktes Tut Tuut schallt aus den Lautsprechern, die ich nicht verorten kann. Eine kleine Rauchwolke kommt aus dem Auspuff der Eisenbahn, der sich auf dem Dach befindet und ein leises Lachen befreit sich aus meiner Kehle. Ein Feuer, das alles, was ich habe, zerstört und meine Frau und meine kleine Tochter tötet und eine kleine Spielzeugeisenbahn macht Tut Tuut. Die Ironie ist greifbar. Ich lasse die kleine schwarze Eisenbahn auf den Boden fallen, lege den Kopf zurück und schließe die Augen. Vor meinen Füßen tut eine Spielzeugeisenbahn ihren letzten Atemzug und schickt eine kleine Nachricht aus Rauch in den Himmel.
14 Monate später klingelt die Ladentür und ich sehe von meinem Buch auf. Eine blonde Frau in einem roten Mantel betritt den Laden. An ihrer Hand ein etwa fünfjähriger Junge.
„Guten Tag, wir suchen eine Spielzeugeisenbahn und irgendetwas sagt mir, dass ich hier richtig bin“, sagte die Frau.
Mein Blick huscht zu dem Ladenschild über mir, auf dem in riesigen roten Buchstaben auf dem Waggon einer Eisenbahn „Mimi’s Spielzeugladen“ steht und ich grinse.
„Und ob sie hier richtig sind!“
Als ich sie ein paar Tage später zufällig in der Stadt wiedersehe, bittet sie mich, zu erzählen, wie ich zu einem Spielzeugladen besonders für Eisenbahnen gekommen war und ich erzähle ihr meine Geschichte. Meine Geschichte, wie ich aus der Asche meines Hauses etwas Gutes erbaute. Wie ich aus dem Lieblingsspielzeug meiner Tochter, das so wiederständig gegen das Feuer gekämpft hatte, einen ganzen Laden gemacht hatte. Wie mir das Projekt geholfen hatte. Und wie ich in jedem Kinderlächeln das meiner Tochter sehe.