Puste (nicht), sie kippt

Wettbewerbsbeitrag von Kathrin Thenhausen, 21 Jahre

„Ich seh’ etwas, das du nicht siehst. Ich seh’ etwas, das siehst du nicht, das siehst du nämlich nie.“
Hinter den Gardinen raschelt es, ein Windhauch womöglich, schmale Hände, Finger, ein Lächeln vielleicht, ein erschrockener Blick.
Am Küchentisch knistert eine Zeitung, der Schlagzeilen verhaltene Geräusche auf Papier.
Zweidimensional ist die Welt eine Kulisse, pustet nicht, sonst kippt sie.
Mutter sitzt am Tisch und kramt nach Fragen, Tischgespräche, der Nachbarn Alltag, das Wetter im Radio, dort scheint die Sonne, sei das nicht schön.
Mutter kramt, kramt in der Luft nach Sätzen, die Stille zu füllen. Sie redet in Dur, passt wenig, Mutter war noch nie musikalisch.
Das Windbrausen wird durch das Fensterglas gedämpft, Melodien in Moll.
Draußen und Drinnen sind klanglich ähnliche Worte. Über beides wird viel geredet, wird wenig getan. Die Welt sei gut, so wie sie ist.
Vater sitzt am Tisch, kramt in der Zeitung nach Antworten, die kurz genug sind, nicht zu antworten.
Mutter fragt Vater, wie sein Marmeladenbrot schmeckt. Himbeermarmelade.
Das Bild von Oma, die rührte damals in der Küche, Fliegerbomben stürzten die Gardinen entlang.
Wie Tagesschau im Fenster, denke ich, sage nichts.
Sehr gut, schmecke sie.
Das Fenster ist nun grau, als hätte jemand eine Regenwand daneben gestellt, ach, wie schön ist es am Küchentisch.
Puste nicht, sonst kippt sie.

Die Züge streiken.
Heute fahren sie verkehrt, erzählt der Radiomoderator, während ein G7-Akkord langsam verklingt.
Verkehrt kann kopfüber, rückwärts, ins Nirgendwo und überall bedeuten. Vielleicht auch falsch. Das sagt er nicht.
„Ich packe meinen Koffer“, denke ich, „Ich packe meinen Koffer und nehme eine Schere und in die graue Karte, da schneide ich ein Loch.“
Manches wird erst ganz, sobald man es zerstört, nur wie man es zerstört, das weiß ich noch nicht ganz.
Vater hat Mutter Weihnachten einen Trockner geschenkt, schranktrocken, die Hemden.
Kann man Flut in den Trockner stecken? Dürre in die Waschmaschine?

Mein Koffer ist schwarz, ein Aufnäher, ein Laternenfisch, im Dunkeln leuchtet er.
Wohin sollen wir denn fliegen, fragt Mutter, wir haben doch alles und die Schlagzeilen rascheln bestätigend, Emphase des Leids der Welt.
Wenn wir dann reisen, wechseln wir unsere Betten gegen die eines Hotels, den Küchentisch gegen Speisezimmer.
Änderung der Tapetenfarbe und die Postkarten triefen vor Sonnenschein.
In Frankreich kauten wir Croissants, die Schokolade verklebte die Zähne.
Auf den Bildern halten wir süße Sätze in den Mündern, „la vie est belle“.
Das Leben ist so schön und wir ertränken all die Toten nach den Nachrichten mit Wein.
Rot sieht aus wie Blut, gegossen in Omas Geschirr.
Ihre Finger waren runzlig, hätte der Wein getropft, wäre er in Flüssen die Haut heruntergelaufen, vielleicht auch übergetreten aus den Falten.
Ich habe sie zu lange schon nicht gesehen, das nennt sich Sozialstaat. Regelmäßiger Kontoabfluss als Altersversorgung.
Oma erinnert sich nicht mehr, Mutter und Vater blättern um, ein Seufzen auf den Lippen, Teil der gesellschaftlichen Erziehung.
Ach Kind, sagen sie, das Weinglas an die Lippen gesetzt, puste nicht. Bald lerne auch ich noch das Seufzen.
Regen tropft auf das Dach, taktvoll, gemäßigt, die Ziegel leicht bräunlich.
In Afrika stehen Lehmbauten und Strohhütten. Romantisch, nicht wahr?
Der Regen tropft, in den Himmel steigt der Duft schwarzen Kaffees, dem Mangel an Koffein, Schnelligkeit und Achtsamkeit vorbeugend.
Die Züge schieben sich heute langsam die Schienen entlang. Im Bett liegt einer, dem gefiel die Schnelllebigkeit nicht und einer, dessen Leber versagte.
Chemikalien ziehen wie lose Aerosole durch die Lüfte. Weihnachtslieder frohen Schalls.
Mutter kramt in dem Lächeln der Politiker nach Versprechungen, Vater kramt in der Schüssel Müsli nach Nahrung für die oder seine Welt.
Irgendwo stirbt ein Hund.
Irgendwo trauert jemand.
Irgendwo stirbt irgendwer und irgendwo tritt ein Fluss über die Ufer, kaut ein Kleinkind leere Luft, lernt ein Junge das Schießen mit dem Gewehr seines Vaters, fragt ein Kind seine Mutter, wo Opa nun sei, werden Strauße mit einem Tuch vor den Augen von der Wiese geholt.
Irgendwo starrt eine Oma in die Vergangenheit.
Irgendwo sitzt ihre Enkelin am Küchentisch und spielt „Ich seh’ etwas, das du nicht siehst“ mit sich selbst.
Laternenfische wandern vertikal von 1200 auf nur zehn Meter. Das ist  ein Drittel von Vaters Weg zur Arbeit, sag Vater, was siehst du unterwegs?
Ich wandere nach links und rechts und tippe auf der Stelle, ihr gebt mir den Rhythmus, ich folge Mutters Fragen, Vaters kurzsilbigen Antworten, das sei Tradition, Tonlage unbestimmt.

Wohin, frage ich, wandert die Welt?
Und wer, frage ich, gehört dazu?
Wohin, frage ich, wandere ich selbst?

Ich packe meinen Koffer.
Ich packe meinen Koffer, während es draußen regnet und packe ihn, weil es draußen regnet. Irgendwo tritt ein Fluss über Wasser, irgendwo schreit ein Jemand nach Hilfe, ein Ich auf der Suche, nach jemandem, der da ist.
„La vie est belle“, wie sieht der Himmel aus unter den Ziegeln?
Welche Farbe hat er im Dunkeln?
Leuchten Laternenfische für alle?
Ich möchte Oma die Zukunft zeigen. Ich möchte die Zukunft vor dem Fenster sehen und um etwas zu verändern, muss ich doch sehen lernen.
Das Mädchen am Küchentisch eine Photographie, ausgeblichen, aufgestanden, gegangen, um zu ändern.

In den Staub, den der Koffer oben auf dem Dachboden zurückließ, male ich ein Karussell. Es dreht sich langsam, dreht sich im Kreise, das Pferdchen wackelt mit dem Kopf.
Ich drehe mich, Mutter dreht sich, Vater dreht sich auch.
„Wohin“, frag ich leise, es wiehert, ich schweige.
Die Treppenstufen knarren mit meinen Schritten, in der Küche kramt Mutter nach Worten.
Kramt in dem Koffer nach Zielen, „Kind, wohin willst du ziehen?“
„Ich weiß es noch nicht, aber heute fahren die Züge verkehrt herum.“
„Vergiss die Marmelade nicht“, mein Vater nickt.
Ich puste und die Zeitung raschelt. Eine Kulisse nur, mehr scheint sie nicht zu sein.
Hinter den Gardinen, da raschelt ein Windhauch. Hinter den Gardinen, da kippt es und bricht.
Vor der Haustür, da steht ein Kind, da steht eine Frau, einen Koffer mit sich.
Einen Koffer und zwei Hände, einen Mund und eine Meinung.
Vielleicht kann man ein wenig ändern, denn heute fahren die Züge verkehrt.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Kathrin Thenhausen, 21 Jahre