In meinen Büchern hinterlassen die Menschen etwas, wenn sie sterben.
Einen Abschiedsbrief.
Ein Testament.
Meine Schwester hat nichts hinterlassen. Kein Geschenk, keine Entschuldigung, nicht mal eine kleine Notiz. Alles, was mir von ihr bleibt, ist das Bild, das sich für immer in mein Gehirn eingebrannt hat: Ihr Körper, auf dem Fliesenboden im Badezimmer, daneben die leere Tablettenschachtel.
Wenn ich abends im Bett liege und die Decke anstarre, wenn ich nicht schlafen kann, dann ist es dieses Bild, das mich wach hält. Ihr Körper. Ich denke nicht einmal wirklich darüber nach. Ich denke nicht, wie furchtbar es doch ist, dass sie tot ist. Ich denke nicht, ich vermisse sie. Alles, was ich tue, ist, mir das Bild vor meinem inneren Auge anzusehen.
Ich erinnere mich kaum an jenen Abend. Was ich verdrängen konnte, habe ich verdrängt. Irgendwann muss ich nach Hause gekommen sein, nehme ich an. Vermutlich musste ich aufs Klo oder wollte duschen oder mir die Zähne putzen. Und dann lag sie da im Badezimmer. Und lag zugleich nicht da, denn zu diesem Zeitpunkt war sie schon lange nicht mehr hier. Wie lange, das weiß ich nicht. Niemand hat es mir gesagt. Und ich habe nicht gefragt.
Wo sie dann war, das habe ich gefragt. Ich habe meine Mutter gefragt und meinen Vater, meinen Religionslehrer und die Schulpsychologin, zu der meine Eltern mich geschickt haben.
Beantwortet hat mir niemand meine Frage. Dabei habe ich sie gestellt, wieder und wieder. Ausweichendes Geschwafel habe ich zurückbekommen und bald hat es mir gereicht, dann habe ich die Küche verlassen oder das Klassenzimmer oder das Büro der Schulpsychologin.
„Du bist noch zu jung“, haben sie mir gesagt, „du kannst das nicht verstehen.“
Dabei bin ich zwölf. Kein kleines Kind mehr. Ich muss es verstehen. Außerdem war meine Schwester auch noch zu jung, um zu sterben. Siebzig wäre in Ordnung gewesen, vielleicht zumindest.
Siebzehn war es nicht.
Trotzdem ist sie gestorben und weil sie sterben durfte, will ich fragen dürfen.
Wieso können mir die Erwachsenen meine einfache Frage nicht beantworten? Es ist doch nur eine einfache Frage. Wenn ich meine Mutter frage, wo mein Vater ist, sagt sie: „In der Arbeit“. Oder: „Beim Einkaufen“. Frage ich Mama jedoch nach meiner Schwester, dann wird sie wütend oder traurig oder fängt an zu weinen.
„Frag deine Eltern“, sagen die Lehrer in der Schule, wenn sie etwas nicht wissen.
„Frag deine Lehrer“, sagen Mama und Papa, wenn sie etwas nicht wissen.
Immer soll ich die Erwachsenen fragen, denn schon lange gelebt zu haben, soll wohl bedeuten, dass man weiß, was es heißt, zu leben.
Ich finde, siebzehn ist schon recht lange. Meine Schwester wusste es anscheinend trotzdem nicht. Andernfalls würde sie doch heute noch leben.
Und als ich diesen Gedanken denke, wird mir klar, was ich tun muss: Ich muss herausfinden, was es heißt, zu leben.
Sonst verbringe ich den Rest meines Lebens damit, nachts an die Decke zu starren statt zu schlafen und tagsüber in der Schule wegzudösen. Dann werde ich für immer zu weinen anfangen, wenn ich unser Badezimmer betrete oder ich werde im Unterricht auf einmal aufspringen müssen, um mich in den Mülleimer vor der Tafel zu übergeben.
Ich muss herausfinden, warum Menschen leben wollen. Und warum andere es nicht wollen. Denn ich möchte nicht werden wie meine Schwester. Ich möchte mit siebzehn nicht tot sein wollen. Niemand möchte das, glaube ich. Aber manche tun es trotzdem.
Wieso?
Ich habe so viele Fragen. Die Erwachsenen sind meine Fragen leid. Und ich bin ihre Antworten leid. Ich muss beginnen, andere Menschen zu fragen.
Bei der Beerdigung meiner Schwester sehe ich viele Mädchen, die so alt sind wie sie. So alt, wie sie es wäre. Sie halten sich in den Armen und weinen. Ein Mädchen schreit. Ein anderes schluchzt laut.
Nur eines der Mädchen steht ganz still da und sagt nichts, bewegt sich nicht, weint nicht.
„Warum weinst du nicht?“, frage ich das Mädchen. „Bist du etwa nicht traurig, dass meine Schwester tot ist?“
„Wie heißt du?“, fragt das Mädchen zurück.
„Max“, sage ich.
„Ich bin Luisa“, sagt das Mädchen, „und ich weine nicht, weil ich nach innen rein traurig bin und nicht nach außen hinaus.“
Ich verstehe nicht genau, was Luisa mir damit sagen will, aber ich traue mich nicht, nachzufragen, was es bedeutet.
„Wieso?“, frage ich stattdessen.
„Die Menschen sind so schon traurig genug. Sie haben jemanden verloren. Wenn ich weine, mache ich sie nur noch trauriger, denn sie sollen einfach traurig sein dürfen und nicht traurig und mitleidsvoll meinetwegen sein müssen.“
Jetzt verstehe ich.
„Ich bin auch traurig“, erkläre ich, „aber ich kann nicht einfach aufhören zu weinen, verstehst du? Ich kann mir das nicht aussuchen.“
„Ich weiß, dass du traurig bist. Du darfst auch weinen. Wenn du weinen willst, dann ist es wichtig, dass du weinst.“
„Aber du willst nicht?“
„Ich will nicht.“
„Hast du meine Schwester gemocht?“, frage ich, dabei ist es eine unnötige Frage, denn jeder Mensch, den ich kenne, mag meine Schwester. Mochte meine Schwester.
„Max, weißt du, was Liebe ist?“
„Ich bin zwölf!“, entgegne ich entrüstet, „natürlich weiß ich das, ich bin kein kleines Kind mehr!“
„Warst du denn schon mal in jemanden verliebt?“
„Ich weiß es nicht“, sage ich wahrheitsgemäß.
„Ich war in deine Schwester verliebt.“
„Oh. Aber du bist ein Mädchen.“
„Mädchen können in andere Mädchen verliebt sein.“
„War meine Schwester auch in dich verliebt?“
„Sie hat gesagt, dass sie es war.“
„Warum wollte sie dann sterben?“
Jetzt habe ich es doch gefragt. Was ich so lange fragen wollte.
„Ich weiß es nicht“, sagt Luisa.
„Wie, du weißt es nicht? Irgendjemand muss es doch wissen! Ist verliebt sein denn nichts Schönes? Ist es denn kein Grund, nicht tot sein zu wollen?“
„Ich glaube, es gibt Fragen, die kann dir niemand beantworten.“
„Das gefällt mir nicht.“
„Ich weiß.“
„Willst du jetzt auch tot sein?“, frage ich nach einem Moment Stille.
Luisa schweigt sehr lange. Dann schüttelt sie den Kopf.
„Ich möchte leben“, sagt sie.
„Und ich“, beginne ich, „ich möchte wissen, was es heißt zu leben.“
„Ich weiß auch nicht, was es heißt, zu leben.“
„Aber du bist viel älter als ich. Und du willst doch leben.“
„Ich weiß es trotzdem nicht. Aber das ist nicht schlimm.“
„Wieso ist das nicht schlimm?“
„Ich kann trotz allem darauf vertrauen, dass es etwas heißt. Zu leben. Ich vertraue darauf, dass ich es irgendwann wissen werde. Dass ich es erfahren werde.“
„Wie kannst du darauf vertrauen?“
„Darf ich deine Hand nehmen?“
Ich halte sie ihr hin.
„Weißt du, Max“, erklärt sie, „nur weil deine Schwester nicht mehr da ist, heißt das nicht, dass die Liebe auch nicht mehr da ist. Man sieht sie nicht, aber ich glaube, sie ist immer noch da.“
„Wo?“
„Überall.“
„Woher willst du das wissen, wenn du sie nicht siehst?“
„Man kann es nicht wissen. Man muss daran glauben. Ganz fest.“
Für eine Weile weiß ich nicht, was ich darauf sagen soll. Darum schweige ich.
Dann drücke ich Luisas Hand ein wenig stärker.
„Ich glaube“, sage ich, „ich will auch daran glauben.“