Es regnete seit knapp einer Woche. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus und kleine Flashbacks drangen an die Oberfläche meines Bewusstseins, während ich beobachtete, wie die Tropfen an der Fensterscheibe abprallten, als wollten sie bei mir anklopfen. Genervt von mir selbst schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab. Auf den Weg in die Aula verdrängte ich die negativen Gedanken und konzentrierte mich auf das, was vor mir lag.
Das letzte Schuljahr mit den stressigen Abiturprüfungen war beinahe zu Ende. Es war ein Jahr voller Veränderungen gewesen, insbesondere für mich. Überall um mich herum wurden nun leise Gespräche geführt. Ich war still, denn ich wusste, viele Schüler redeten auch über mich.
Heute versuchte ich die Gespräche auszublenden. Dabei suchte ich die Reihen ab. Meine Augen erblickten viele vertraute Personen, aber nicht die, nach der ich suchte. Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht oder wütend sein sollte, dass Justin nicht hier war. Vielleicht auch erleichtert?
Schließlich wandte ich mich wieder der Bühne zu. Der Schulleiter stand unten auf der freien Fläche und sprach seinen langen Text. Dann wurden mehrere Namen aufgerufen. Die Personen mussten nacheinander auf die Bühne kommen und wurden für besondere Tätigkeiten und Erfolge in diesem letzten Schuljahr ausgezeichnet. Bei jedem Beifall schloss ich mich an. Ich merkte wie die Nervosität langsam in mir hochschoss. Mir war warm, meine Hände zitterten, ich spürte meine Beine nicht. Verdammt! Ich hasste es.
Dann rief der Schulleiter einen weiteren Namen: „Miles Grithony, bitte!“
Meinen Namen. Alle Leute richteten ihre Konzentration auf mich.
„Zeig es ihnen“, zischte meine Sitznachbarin aufmunternd. Dabei war ihr Lächeln freundlich, ehrlich. Zögerlich machte ich mich auf zur Rednerfläche. Der Weg fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Die Augen der anderen folgten mir wie bedrohliche Schattengestalten. Unten angekommen, drehte ich mich ungeschickt in Richtung Publikum.
Der Schulleiter erhob nochmal die Stimme: „Hier ist nun ein Schüler, praktisch schon ein erwachsener Mann, der dieses Jahr vieles durchlebt hat. Zum einen hat Miles im ersten Viertel des Schuljahres die Landesleichtathletikwettkämpfe gewonnen und damit unsere Schule, aber mehr noch unsere Schüler und Schülerinnen bestens vertreten.“
Die Erinnerung daran war kompliziert. Ich empfand definitiv Stolz. Immer wenn ich an den Ablauf des Tages dachte und die Menschen, die ich dort kennengelernt hatte, überrannte mich ein Schwall positiver Emotionen. Vor allem aber schmerzte die Erinnerung auch, sie schmerzte auf eine Weise, wie ich es nicht zu beschreiben vermochte.
„Miles hat sich während der Zeit, in der er verhindert gewesen war, nicht zur Ruhe gesetzt. Er hat Organisationen kontaktiert und Kampagnen gegen Drogen- und Alkoholkonsum gestartet, die weit verbreitet und sogar in den Nachrichten erwähnt worden sind. Dafür wird dir unser aller Respekt entgegengebracht.“ Die letzten Worte richtete er direkt an mich. Stumm nahm ich die Urkunde entgegen. Um mich herum ertönte lauter Applaus.
Mir wurde das Mikrofon gereicht: „Danke, ich… danke für die Unterstützung. Ich bin etwas überfordert gerade.“ Meine Stimme war ungewohnt laut. Gelächter erklang, aber es war nicht beurteilend, sondern amüsiert. Ich musste lächeln. Es war seit langer Zeit das erste Mal.
Ich nahm meine Rede weiter auf und kam zum Schluss: „Für mich ist das Jahr komplett anders verlaufen, als ich es mir hätte vorstellen oder anfangs wünschen können. Alle, die jetzt Träume oder Wünsche haben: Ich rate euch, geht ihnen nach! Es kann immer etwas Unvorhersehbares passieren, das euch - wortwörtlich - von den Beinen reißt.“ Ich sah die Menge lächeln. „Aber auch das ist okay. Ihr werdet daran wachsen. Habt keine Angst, Fehler zu machen und versucht dem Leben eure eigene Marke aufzusetzen. Dann kann es euch meistens weniger etwas anhaben.“
Ich endete und Applaus erklang. Schließlich war ich schneller als gedacht wieder auf meinem Platz und nach einiger Zeit endete die Vorstellung gänzlich. Die Aula leerte sich schnell. Es war fast niemand mehr im Raum, als jemand mich ansprach: „Hey, Miles. Können wir reden?“
Überrascht schaute ich auf: „Justin.“ Ich blickte meinen alten Freund an. Er war also doch gekommen. Der Ausdruck in seinen Augen war schwer zu deuten.
„Ich weiß, ich hätte früher kommen sollen“, gab er zu. Dabei blickte er an mir herab und senkte den Blick.
Ich schluckte die Verbitterung hinunter, genauso, wie ich auch dem Regen und den negativen Gedanken den Rücken gekehrt hatte. „Wieso bist du nicht früher gekommen?“
„Ich dachte, du wolltest mich nicht sehen.“
„Wieso nicht? Du bist immer noch mein Freund, Justin.“
„Auch nach dem noch?“, sagte er. Ich folgte seinem Blick, der nun direkt auf meinen leblosen Beinen lag. Sie waren durch die Zeit im Rollstuhl viel dünner geworden. In Justins Augen standen Schuld und Selbsthass.
Ich sagte: „Es war nicht deine Schuld.“
Justin sah mir in die Augen: „Ich bin gefahren.“ Er war total angespannt. Doch der Augenkontakt gab mir Hoffnung. Ich hatte meinen Freund vielleicht doch nicht verloren. Ich erwiderte seinen Blick und entgegnete: „Wir waren beide betrunken. Es war meine Idee. Es hätte genauso gut dich treffen können.“
Er schloss die Augen und schien nachzudenken.
„Aber es ist auf ewig so“, hauchte er, „es ist eine verdammte Querschnittslähmung, Miles!“
„Das brauchst du mir nicht zu sagen, Justin! Die Ärzte haben das alles schon deutlich genug erklärt.“
„Tut mir leid, ich weiß…“, er fuhr sich mit der Hand fluchend durch die Haare. „Ich wollte mich entschuldigen, für mein Verhalten. Nicht für den Unfall, ich weiß, wie du dazu stehst, sondern für mein Verhalten danach. Das war scheiße.“
„Es freut mich, dass du hier bist, Justin. Ich würde lügen, würde ich sagen, ich hätte dich im Krankenhaus nicht gebraucht. Aber jeder muss erstmal versuchen, seine eigenen Probleme in den Griff zu bekommen.“
Ich hatte genug mit Fluchen im Krankenhaus verbracht: „Ich mache das Beste daraus. Es gibt immer noch Menschen, die es viel schwerer haben als wir.“
„Das ist mir bewusst. Das macht unsere Sorgen und Probleme aber nicht weniger wichtig. Wenn wir die kleinen und banalen Schwierigkeiten nicht bewerkstelligen, machen sie uns genauso kaputt wie die großen. Dich wiederzusehen war eine dieser banalen Schwierigkeiten“, gestand Justin.
„Vielleicht haben Schicksalsschläge auch ein paar positive Seiten, Justin. Vor einem Jahr hättest du noch eine ganz andere Meinung gehabt.“
Ich versuchte, ihm ein Stück meiner Hoffnung und Vergebung mitzugeben. Wir redeten auf dem Weg nach draußen weiter. Der Regen hatte nicht aufgehört. Die Tropfen ließen wieder ein Bild der Unfallsnacht in meinen Kopf schießen. Der Regen, der auf die Windschutzscheibe prasselte, die Reifen wie sie den Kontakt zum Boden verloren.
Konzentriert ließ ich die Erinnerung verschwinden. Auch wenn es weiter regnete, gab es immer etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und sei es nur eine gute Freundschaft.