Nicht ohne meine Schwester

Wettbewerbsbeitrag von Emilia Rodriguez Kruska, 13 Jahre

„Hörst du das auch, Tessa?“, fragte Feli (eigentlich Felicitas) ihre große Schwester flüsternd.
„Wa-Was?“ „Na hörst du das nicht? Bestimmt ist das ein Einbrecher!“ Die Schritte im Treppenhaus wurden immer lauter, und jetzt war Tessa sich hundertprozentig sicher, dass die Person nicht in eine andere Wohnung wollte, denn sie befanden sich im siebten Stockwerk und höher ging das Mehrfamilienhaus nicht. „Komm! Wir gehen Papa Bescheid sagen.“
Die beiden kleinen acht- und zwölfjährigen Mädchen hüpften aus ihren nahe beieinander stehenden Betten und huschten den Flur entlang. Die Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters war nur angelehnt. Diese Tatsache war ungewöhnlich, denn wenn er, im seltenen Fall, einmal zu Hause war, verschloss er direkt die Tür und schlief seinen Rausch aus. Tessa stieß sie auf und spähte hinein. „Papa? Papa, bist du wach?“ Es kam keine Antwort, deshalb betrat sie den Raum und ging auf das Bett zu. „Papa ist nicht da.“ Sie redete sehr leise, dennoch konnte Feli sie bestens verstehen. „Sei mal kurz leise!“ Sie hörten, wie sich ein Schlüssel im Schloss umdrehte und die Wohnungstür aufschwang. Felicitas klammerte sich Schutz suchend an Tessa.

„Schlaftihrschonn? Schhabehunger!“ „Papa!“ Feli rannte zu ihrem Vater, um ihn zu umarmen, doch er schubste sie von sich. „Wo warst du?“ Der Vorwurf in Tessas Stimme war nicht zu überhören. „Dat geht dich garrrnischts an!“ „Du kannst doch nicht einfach weg sein, ohne was zu sagen! Wir dachten ein Einbrecher kommt!“
Der Schlag kam so unerwartet, dass sie ihr Gleichgewicht nicht mehr halten konnte und drei Schritte rückwärts taumelte. Es war wie ein Bier zu viel. Tränen strömte über ihre zarten Wangen, und die Stelle, an der ihr Vater Hand angelegt hatte, färbte sich rot. „Rede nisch so mid deinem VADDA!!!“ Sie war so geschockt, dass ihr ganzer Körper zitterte. Sie konnte ihre Schwester wimmern hören, und es zerriss ihr das Herz.
Es war nicht das erste Mal, dass er sie geschlagen hatte, aber früher geschah es mit Vorwarnung. Beispielsweise als sie einmal zu spät von einer Freundin nach Hause gekommen war oder eine schlechte Note in einer Mathe-Klassenarbeit bekam. In diesen Momenten stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn ihre Mutter noch da wäre.
„Ischwill eusch nichtmehr sehen!“ Feli packte Tessa am Ärmel und zog sie in das winzige Kinderzimmer.
In dieser Nacht teilten sie sich ein Bett und hielten sich gegenseitig, um sich nicht alleine zu fühlen. Sie lagen angstvoll da, ohne zu wissen, dass ihnen die Möglichkeit verwehrt wurde, sich von diesem Ort zu befreien.
Die Kleine wachte als erstes auf. Für einen kurzen Augenblick fühlte sie sich wohl unter der flauschigen Decke, neben ihrer Schwester. Dieser Augenblick dauerte nur solange, bis ihr die gestrigen Ereignisse ins Gedächtnis kamen. Sie drehte sich im Bett um und musterte das hübsche Gesicht ihrer Schwester. Man konnte die Schwellung immer noch deutlich sehen, doch nun war sie nicht mer rot, sondern viel eher blaugrün. Heute war Samstag, also war es nicht notwendig, sie zu wecken. Felicitas legte großen Wert auf Zahnpflege (wie zuvor ihre Mutter), also war das Erste was sie jeden Morgen tat, sich die Zähne zu putzen. Sie wusste, das sie bei dem Versuch, die Tür leise zu öffnen, sorgsam und langsam vorgehen musste. Das tat sie auch, aber irgendwie bekam sie sie nicht auf. „Da muss irgendwas klemmen“, murmelte sie vor sich hin und startete einen weiteren Versuch. Auch dieses Mal rührte sich nichts. Sie rüttelte immer kräftiger, doch es tat sich einfach nicht das kleinste Bisschen. Das konnte doch nicht sein. Sie trat einmal kräftig dagegen, ohne zu bedenken, dass ihre Schwester davon aufwachen würde.
„Feli! Sei leise, sonst hört Papa dich noch!“ Tessa fasste sich ins Gesicht, und ihre Miene verzog sich.
„Tut es sehr weh?“ „Es geht. Was ist los?“ „Wir kommen hier nicht raus!“ „Wie bitte? Das kann nicht sein…“ Tessa wahr schon lange auf den Beinen und rüttelte selbst an der Türklinke. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, in der Hoffnung, dadurch würde sich alles aufklären. Das tat es nicht, aber sie blieb beim Fenster hängen. Sie befanden sich zwar ganz oben, aber an der Außenwand war eine Leiter angebracht, für den Fall eines Brandes. Sie ging auf das Fenster zu, öffnete es und sah hinab in die Tiefe.
„Du, du willst du nicht etwa?“ „Doch. Wir müsse hier weg!“
„Aber das können wir doch nicht machen! Wo sollen wir denn hin? Lass uns versuchen, Papa zu wecken, und dann…“
„Was dann? Verstehst du es nicht? Wir können hier nicht bleiben! Was, wenn er dich das nächste Mal schlägt?“ „Ich geh hier nicht weg, das trau ich mich nicht. Geh du doch, ich bleibe hier!“
Sie hatten noch nie in ihren Leben wirklich gestritten, dazu war gar nicht genug Zeit. Sie mussten sich bis jetzt immer gegenseitig schützen. Feli verstand nicht, wieso Tessa unbedingt weg wollte, obwohl es eigentlich auf der Hand lag. Aber konnte Tessa Feli wirklich alleine zurück lassen?
„Du musst mitkommen. Ich geh doch nicht ohne meine Schwester!“ Jetzt rang die jüngere noch etwas weiter mit sich, bis sie schließlich „Na gut“, erwiderte.
Sie packten hastig ihre wichtigsten Besitztümer zusammen, bis ihnen auffiel, dass sie nichts zu essen hatten, und recht hungrig waren. Zum Glück fanden sie in einer alte Brotdose noch Äpfel und Brötchen vom Vortag.
Tessa war die erste, die einen Schritt auf die Sprossen der Leiter wagte. Die andere wartete noch einige Minuten, bis Tessa sicher auf dem Boden stand, dann tat sie es ihr gleich. Am Boden angelangt rannten sie los. Sie hatten sehr wohl ein Ziel, doch wussten sie nicht genau, wo es sich befand.
„Habt ihr euch verlaufen, ihr beiden Süßen?“ Eine etwas ältere Frau war auf sie zugekommen. „Nein, aber wir suchen die Polizei-Station, wissen Sie, wo die ist?“ Nun schaute die Frau recht besorgt. „Ja, das weiß ich. Soll ich euch dahin begleiten?“ „Ja, bitte.“
Den beiden fiel jedes einzelne Wort schwer. Sie waren Kontakt mit anderen Menschen nicht gewöhnt. In der Schule sprachen sie nur mit den Lehrern, wenn es sein musste. Der Weg bis zum Revier war nicht weit, höchstens 15 Minuten, doch ihnen kam es wie eine Ewigkeit vor.
Als sie da waren, erwartete sie schon eine nett aussehende Frau mit einer quadratischen Brille, deren Gestell wie ein Leopard gemustert war. „Sie hatten mich angerufen?“, fragte sie zur alten Frau gewandt. „Ganz recht. Diese beiden Süßen wollten zur Polizei, aber ich denke, dass ist eher ein Fall für das Jugendamt.“ Vom Jugendamt hatten beide schon einmal gehört. „Die kümmern sich doch um böse Kinder, oder?“, flüsterte Feli ihrer Schwester ängstlich ins Ohr.
„Nein, wir kümmern uns auch um Kinder, die keine guten Eltern haben.“ Anscheinend hatte sie es gehört. „Müssen wir jetzt wieder zurück zu unserem Papa? Ich will da nicht wieder hin! Ich will nicht wieder geschlagen werden!“ Die Frauen warfen sich traurige Blicke zu, doch dann lächelte die mit der Brille. „Nein, da müsst ihr nie wieder hin...“

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Emilia Rodriguez Kruska, 13 Jahre