„Zum Glück habe ich morgen die Prüfung“, ich stoße die Luft aus, „weißt du, wie anstrengend der Übungsplatz mit meinem Vater war? Eigentlich hätte mein Opa mir das beibringen sollen, aber dann ist er einfach so gestorben.“
„Ja, genau“, meine Freundin sieht mich mit schief gelegtem Kopf an, „er hat das persönlich getan, um dir Umstände zu bereiten.“
Ich winke ab. Natürlich berührt mich der Tod meines Großvaters nicht nur dann, wenn er mit meinen Plänen kollidiert. Aber es ist einfacher, sich darüber aufzuregen, als bei meinen Freunden rumzuheulen, weil ich ihn vermisse. Dann wüssten sie nur nicht, was sie sagen sollten, und das hasse ich. Also mache ich Witze. Das ist in seinem Sinn.
Mein Opa hatte einen trockenen Humor. Zudem war er Busfahrer und hat mich über alles geliebt. Daher habe ich das Gefühl, er hätte mich besser angeleitet als mein Lehrer und mein Vater, die ich mit meinen nicht vorhandenen Fahrkünsten ständig emotional überforderten. Ich sehe meine skeptisch dreinschauende Freundin an und zwinge mich zu einem Lächeln. „Ich schaffe das.“
Ich schaffe das nicht. Wieso zur Hölle dachte ich, ich könnte es schaffen?
„Fangen wir an“, mein Fahrlehrer schiebt den Sitz ein Stück zurück, „du bist bereit, Yara.“
Ja, leck mich am Arsch, Günter, offensichtlich ja nicht. Du wolltest doch nur eine Möglichkeit, eine gescheiterte Prüfung abrechnen zu können. Er sitzt neben mir, wie schon tausende Male zuvor. Aber erst heute wirkt sein Lächeln diabolisch.
Ich beiße die Zähne zusammen. Meine Hände zittern. Sie sollten nicht zittern.
Sitz einstellen, Motor an, Seitenspiegel anpassen, Rückspiegel.
Anschnallen, ersten Gang einlegen. Ich umklammere das Lenkrad, bis meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Das Zittern hört trotzdem nicht auf.
Mein Lehrer seufzt. „Na komm schon.“
Blinker setzen, Kupplung langsam komme… Schulterblick! Verdammt, wie konnte ich den vergessen? Ich vergesse immer irgendwas, es ist zu viel, es ist einfach viel, viel, viel zu viel auf einmal, und es ist einfach, viel zu einfach, und meine Gedanken schweifen ab, und dann auf einmal passiert alles gleichzeitig, und wenn ich etwas falsch mache, könnte jemand STERBEN, gottverdammt!
Ich schaffe das nicht. Ich schaffe das nicht. Lächerlich. Die Nachfahrin eines Busfahrers. Kann nicht mal ausparken. Ich schaffe das nicht. Ich werde das nie können, und dann stellt mich niemand ein, weil man heutzutage für jeden Scheiß einen Führerschein braucht, und ich habe das Geld meiner Eltern verschwendet, und ich bin eine Bürde, und jemand hupt, weil ich den Blinker gesetzt habe.
Ich sehe meinen Fahrlehrer an. „Die hassen mich.“
„Ja. Aber das ist nicht dein Problem“, wenigstens hat er meinen nicht vorhandenen Schulterblick nicht bemerkt. Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue aus dem Fenster. Wieso bin ich nicht gut genug? Ich bin nie gut genug.
„Jetzt entspann dich, Yara“, sagt mein Fahrlehrer. Er klingt genervt.
Der Kugelschreiber in meiner Brusttasche drückt schwer gegen mein viel zu schnell schlagendes Herz. Mein Opa hat irgendwann eine Sammlung angelegt. Abgesehen von Kleidung und diesen Stiften habe ich offensichtlich nichts von ihm geerbt.
Meine Augen fixieren sich auf den Seitenspiegel. Naja, nichts, außer der Fähigkeit, eine Kurzhaarfrisur zu rocken. Ich habe sie kurz nach seinem Tod geschnitten. Es hatte nichts mit ihm zu tun. Der Termin stand schon vorher. Erst bei der Beerdigung, an der ich sein lilafarbenes Hemd trug, wurde mir klar, dass ich für die Umstehenden dadurch vielleicht wirklich ein bisschen aussah wie er.
Für einen Moment ist mir, als würden mir braune Augen im Spiegel zuzwinkern. Das macht keinen Sinn, denn meine Augen sind hellgrün.
Mädche, du schaffst des.
Ich spüre den Kugelschreiber kaum noch. Mein Herz schlägt nicht mehr so schnell.
Ich lächle den Seitenspiegel ein letztes Mal an. Dann mache ich den Schulterblick, lenke zur Seite und lasse die Kupplung langsam kommen.
Fünfundvierzig Minuten später ist das Unmögliche geschehen. Ich habe es durch den Straßenverkehr geschafft, und dabei weder einen Briefkasten, ein Kind, noch einen niedlichen Hund überfahren. Und anscheinend habe ich mich auch an alle Verkehrsregeln gehalten.
„Sieh an“, mein Fahrlehrer tut etwas, dass ich bei ihm noch nie zuvor gesehen habe: Er hebt beeindruckt die Augenbrauen. „Du hast es beim Erstversuch geschafft.“
Ich steige aus und grinse, als ein warmer Sommerwind über meine Haut streicht. Meine Eltern kommen mir entgegen. Als sie meinen Blick sehen, fallen sie mir um den Hals.
„Na, da haben sich die vielen Stunden ja doch gelohnt“, brummt mein Vater, während meine Mutter an meiner Schulter jubelt.
Ich lache.
Und fast ist mir, als würde ich im Wind eine Stimme hören, dieselbe Stimme, die mich als Kind immer rief, wenn ich jede sich bietende Möglichkeit nutzte, um irgendwo draufzuklettern oder mir etwas Süßes zu nehmen.
Yara. Yara! Soll ich der mal was sagen?
Unwillkürlich rolle ich mit den Augen. Was, Opa?
Das Lächeln in seiner Stimme.
Yara, des hab ich gewisst!