Geboren, um zu arbeiten
Jeden Tag steht Bhani auf der Hauptstraße und bettelt. Sie ist eine von 44 Millionen indischer KinderarbeiterInnen...
Jeden Tag steht Bhani auf der Hauptstraße. Sie streckt ihre kleine Hand aus und schaut traurig. Selbst wenn sie lacht, sieht sie traurig aus. Und alt. Ihre Haut ist grau – vom Staub der Straße. Grau vom Hunger, der Armut, der Arbeit. Seit sie denken kann, steht sie jeden Tag auf der staubigen Hauptstraße, in der Hitze, die Haare verfilzt, die Hand ausgestreckt. Bhani ist ein Straßenkind. Sie bettelt oder verrichtet Tagelöhnerarbeiten gegen wenige Rupien. Eine Schule hat die Achtjährige noch nie besucht. Bhani ist eine von schätzungsweise 44 Millionen indischer KinderarbeiterInnen. Damit ist Indien das Land mit den weltweit meisten KinderarbeiterInnen.
*Endgültige Zahlen unklar*
Die indische Regierung hat die Anzahl der KinderarbeiterInnen für das Jahr 2005 mit 10,26 Millionen angegeben. Verschiedene Hilfsorganisationen gehen in ihren Schätzungen sogar weiter: Es wird angenommen, dass mindestens 40 Millionen indischer Mädchen Kinderarbeiterinnen sind! Das ist die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands. Es gibt sogar Stimmen, die die Zahl der KinderarbeiterInnen in Indien auf mehr als 120 Millionen schätzen. Der indische Journalist und Buchautor M.V. Kamath sagt: „Es gibt mindestens 70 bis 80 Millionen Kinder in Indien, die nicht die Schule besuchen. Was machen diese Kinder? Man muss davon ausgehen, dass sie alle arbeiten.“
*Mädchen sind besonders hart betroffen*
Gerade die Mädchen sind von Kinderarbeit betroffen – sie gelten in Indien als weniger Wert als ein Junge und stellen eine wirtschaftliche Einbuße für die Familie dar. Für ein Mädchen ist es noch viel weniger wichtig, zu einer Schule zu gehen – denn sie wird ja sowieso verheiratet. So fern sich die Eltern das leisten können. Denn um eine Tochter zu verheiraten, muss eine hohe Mitgift bezahlt werden. Das ist vor allem in den nördlichen Bundesstaaten Indiens unter der ärmeren Bevölkerung weit verbreitet. Um der Armut zu entrinnen, werden die Mädchen schon früh zum Arbeiten geschickt. Aber auch die Jungen trifft dieses Schicksal.
*Schuften zum Hungerlohn*
Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) müssen mindestens 18 von hundert Kindern zwischen fünf und 14 Jahren in ausbeuterischen Verhältnissen schuften. Sie arbeiten unter gesundheitsschädlichen und gefährlichen Bedingungen zu Hungerlöhnen. Sie schleppen Steine, bauen Feuerzeuge zusammen, weben Teppiche – 12 bis 14 Stunden lang am Tag. Gerade einmal 38 Prozent werden überhaupt entlohnt, die Jungen etwas besser als die Mädchen – wenn sie überhaupt bezahlt werden.
*Swati und Gorkha müssen Steine schleppen*
Damit sind sie Kinder ohne eine Kindheit. So wie der siebenjährige Gorkha und seine sechsjährige Schwester Swati. Auch sie haben noch nie eine Schule besucht. Der Junge und das Mädchen schuften auf einer Baustelle. „Ich habe schon immer im Straßenbau gearbeitet“, sagt der Siebenjährige. In knappen Shorts, einem zerfetzten, dreckigen Hemd und barfuß schleppt er mit seiner Schwester Wackersteine. Jeden Tag arbeiten sie 12 Stunden lang in der sengenden Sonne. Für 500 Kilo am Tag bekommen die Kinder sechs Rupien – umgerechnet 10 Cent. 12 Stunden, 500 Kilo, sechs Rupien – das sind die Zahlen die Gorkhas und Swatis Leben bestimmen. Ein Erwachsener würde für diese Arbeit mindestens hundert Rupien bekommen. Gorkha und Swati leben mit ihrer Familie an der Straße. Sie ziehen von Baustelle zu Baustelle, hausen in Plastik-Zelten, mitten auf dem staubigen Schotter, im Dreck, in den Abgasen der vorbeirasenden LKWs. Dieses Leben und Arbeiten ist gefährlich: Vor wenigen Monaten wurde Gorkhas und Swatis älterer Bruder von einem Lastwagen tot gefahren. Seither müssen sich die Geschwister sich doppelt anstrengen. Denn der Verdienst des toten Bruders fehlt.
*So viel wert wie ein Straßenköter*
„Das Leben eines Kinderarbeiters wird nicht höher als das eines Straßenhundes angesehen“, erklärt M.V. Kamath, „diese Kinder sind geboren, um zu arbeiten. Wenn sie das nicht überleben, ist es in erster Linie ein wirtschaftlicher Verlust.“
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Autorin / Autor: Tina Groll - Stand: 7. März 2006