Der Schein trügt - Teil 3

von Ann-Katrin Kinzl

Schwerfällig erhob sich Evan und folgte dem Wärter in einen hell erleuchteten Raum am Ende des Ganges.
An einem Tisch saßen zwei Männer unterschiedlichen Alters, die ihn mit kühlen Augen musterten.
Evan setzte sich auf einen freien Stuhl und schaute gedankenverloren vor sich hin.
Schließlich räusperte er sich und sagte mit leiser Stimme: „Meine Herren, ich weiß was Sie beide von mir denken. Sie denken ich bin ein Mörder. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort und habe ein Rache-Motiv, das vermutlich stärker ist als alle anderen. Dennoch bin ich unschuldig.“

Orson und Edward hatten die ganze Zeit kein Wort von sich gegeben, jedoch still mit Blicken kommuniziert. Beide hatten immer noch kein Motiv für diese Tat. Rache? Wieso Rache? Für welche Tat? Oder war eher die Frage für wen? Orson nippte an seinem Flachmann, zündete sich anschließend seine Pfeife an und begann erst dann, die wahren Beweggründe von Evan Brendt für den Mord an Mrs. Hemmingway zu finden.

„Sie sind also unschuldig, reden aber von Rache. Sie müssen endlich die Wahrheit erzählen, ansonsten sehe ich schwarz für ihre Verhandlung. Es droht Ihnen der Galgen!“

Eingehend musterte er die dunkelgrünen Augen des jungen Mannes, der ihm gegenüber saß.
Er war nicht fähig zu einem Mord, da war sich MacPhee sicher. Ein junger Mann, der alles im Leben hat, setzt es nicht einfach leichtfertig aufs Spiel.
Der Bursche war bestimmt nicht älter als 20. Er und Edward Davids hatten in etwa dasselbe Alter und doch fiel ein markanter Unterschied auf. Während Edward strahlend und lebhaft wirkte, ging von Evan Brendt etwas Mysteriöses aus. Ein schmerzlicher Zug in seinem Gesicht ließ auf schwere Zeiten schließen.
Evan schaute nun auf den Boden und begann zu erzählen.

„Am besten fange ich ganz von vorne an. Meine Geschichte klingt ziemlich unglaubwürdig.
Dennoch hat sich alles was ich Ihnen beiden erzähle tatsächlich so zugetragen. Ich wurde im Jahr 1915 in der Nähe von London geboren. Meine Mutter Jules Gardiner hatte eine Affäre mit George Hemmingway, dem verstorbenen Mann von Jane Hemmingway. Er starb 1914 an der spanischen Grippe und ließ meine Mutter schwanger zurück. Vor dem Krieg noch hatte er ihr versprochen, sich scheiden zu lassen und sie dann zu heiraten. Seine Frau war davon selbstverständlich wenig angetan. Obwohl ihre Ehe arrangiert und eine einzige Farce war, hatte sie Angst vor dem sozialen Abstieg. Als mein Vater im Krieg fiel und ich als sein Sohn laut Testament alles geerbt hätte, fasste sie den Plan, mich und meine Mutter loszuwerden. Erst versuchte sie wirklich alles, um den Ruf unserer Familie in den Schmutz zu ziehen. Später griff sie zu drastischeren Methoden. Es war in den letzten Kriegstagen. Ich war 3 Jahre alt. Sie fuhr zu dem Haus, in dem wir lebten und machte meiner Mutter eine Szene. Sie beschimpfte uns und bot uns Geld an, damit wir verschwinden würden. Als meine Mutter sich darauf nicht einlassen wollte, wurde sie entsetzlich wütend. Sollte wirklich so eine impertinente und ungebildete Landadlige ihr das Haus und ihr ganzes Vermögen wegnehmen?
Ich erinnere mich noch an diesen Tag als wäre es gestern gewesen. Meine Mutter hatte ein weißes Musselinkleid an. Ich erinnere mich, dass sich der Stoff schnell mit Blut voll saugte. Sie wissen doch, Kinder erinnern sich an solche Dinge ganz besonders gut.
An diesem Tag verlor ich meine Mutter und damit auch meine Kindheit.
Jane hat sie aus Eifersucht die Treppe hinab gestoßen. Aus Angst, ihr Vermögen und ihre Besitztümer zu verlieren, nahm sie einem Kind die Mutter.
Sie hat mich ins Londoner Waisenhaus gebracht und natürlich gehofft, ich würde wieder alles vergessen. Zunächst schien ihr Plan aufzugehen. Ich erinnerte mich an nichts.
Die ersten Jahre im Waisenhaus galt ich als Außenseiter, denn seit dem Tod meiner Mutter sonderte ich mich ab und sprach nicht. Niemand konnte sich erklären, was mit mir passiert war. Vermutlich nicht einmal ich selbst. Meine Erinnerung war wie ausgelöscht.“

„Aber wie haben Sie sich schließlich wieder an die Geschehnisse erinnern können“, fragte der bis dahin eher zurückhaltend wirkende Davis.

„Nun ich nehme an es gab einen Mitwisser an dem Mord. Das ist ja wohl offensichtlich!
Oder liege ich mit meiner Vermutung falsch?“ Mac Phee schaute erwartungsvoll zu dem Tatverdächtigen, während er ungeduldig auf seine Taschenuhr schaute. Und während er hoffte wenigstens heute keine Überstunden machen zu müssen, begann Brendt in den Innentaschen seines Mantels nach etwas zu suchen.
„Diesen Brief hier bekam ich letzte Woche. Es wurden weder Datum noch Adresse angegeben.“

Mit Stirnrunzeln betrachtete MacPhee den Brief. Er sah Kaffeeflecken darauf und abgeknickte Ecken, was seinem natürlichen Ordnungssinn in hohem Maße widersprach.
In eleganter, altmodischer Handschrift war das Papier, nebenbei bemerkt ein sehr billiges Briefpapier, bedruckt.

Interessiert musterte Davis MacPhees Gesicht. Doch dieser war bereits tief in den Brief versunken und las ihn schließlich laut vor.

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Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 30. Juni 2010