Der Schein trügt - Teil 6

von Ann-Katrin Kinzl

5. Kapitel

Orson MacPhee trank mit hastigen Schlucken seinen heißen Kaffee aus und verbrannte sich dabei auch noch die Zunge. Ungeduldig starrte er auf seine Taschenuhr. Sie war alt und abgegriffen und hatte einen Sprung im Gehäuse, passte somit ganz und gar zum Besitzer. Doch auch der kleine Riss im Gehäuse konnte nicht verbergen, dass Davis bereits eine Viertelstunde zu spät war.
Mit hochgezogenen Augenbrauen und düsteren Gedanken wollte MacPhee sich alleine auf den Weg zu dem Haus von Paul Fenley machen. Was bildete sich dieser Engländer überhaupt ein, ihn, einen berühmten Meisterdetektiv, warten zu lassen?!

Nach einer unbequemen Fahrt in seinem alten Rolls-Royce befand sich MacPhee schließlich vor einem kleinen Stadtbungalow. Hier wohnte Paul Fenley – der Mann, der vermutlich viel zur Aufklärung des Mordfalls beitragen konnte. Gerade als MacPhee den eisernen Türklopfer betätigen wollte, hörte er einen lauten Knall, der augenscheinlich von dem Zusammenstoß eines Radfahrers mit einer Straßenlaterne zeugte.
Der junge Mann war unter dem verbeulten Schrotthaufen begraben, konnte sich jedoch aus eigener Kraft aufrappeln. Trotzdem eilte MacPhee auf der Stelle zu ihm, um zu sehen, ob er irgendwie Hilfe leisten könnte.
Nicht im Geringsten überrascht stellte er fest, dass es sich bei dem Unglücksraben um seinen Kollegen Davis handelte.
„Davis, Sie treiben es aber auch wirklich auf die Spitze! Erst lassen Sie mich über eine halbe Stunde warten und dann beschädigen Sie auch noch das Ansehen von Scotland Yard, indem Sie die ganze Stadt in Aufruhr versetzen. Was ist das aber auch für ein unsäglicher Schrotthaufen…!“
Einige vorbeigehende Passanten drehten sich neugierig herum und unterdrückten ein Lächeln, beim Anblick dieser augenscheinlich sehr komischen Situation.
Davis war unterdessen zu einem Häufchen Elend zusammengeschrumpft und traute sich kaum seinem Vorgesetzten in die Augen zu schauen.
„Entschuldigen Sie, Sir. Es war nicht meine Absicht, Sie zu verärgern. Ich bin untröstlich. So etwas ist mir wirklich noch nie passiert. Mrs. Adams, meine Haushälterin, war wieder mal etwas zu ordentlich und hat meine ganzen Schuhe, außer den guten Hauspantoffeln weggeräumt. Leider konnte sich die gute Frau nicht mehr daran erinnern, wo genau sie alles hingeräumt hat. Das Alter macht sie leider doch sehr vergesslich. Ich konnte nicht ein einziges Paar wieder finden. Tja, und als ich mich schließlich entschlossen hatte, auf die Schuhe zu pfeifen und einfach mit Pantoffeln aus dem Haus zu gehen, sprang mein Wagen nicht an. Der Bus war bereits weg und so musste ich wohl oder übel den Nachbarsjungen fragen, ob er mir sein Fahrrad leiht. Nun, und jetzt bin ich auch noch zu spät. Meine Pechsträhne will einfach nicht abreißen.“
MacPhee, der eigentlich kein besonders feinfühliger Mensch war, bemerkte lediglich: “Nur nicht den Mut verlieren, schlimmer kann es ja eigentlich nicht mehr kommen! Aber jetzt trödeln Sie nicht lange hier herum, wir sollten schon längst bei der Zeugenbefragung sein, statt diesen Schrotthaufen zu bewundern.“


6. Kapitel

Wo blieben denn diese beiden Schnüffler von Scotland Yard bloß? Immer diese Verspätungen! Hieran sah man wieder einmal, dass Polizisten hoffnungslos überbezahlt waren. Paul Fenley schaute missmutig auf seine Kuckucksuhr an der Wand, die lautstark den Beginn einer neuen Stunde anzeigte. Jane hatte ihm die Uhr zu Weihnachten geschenkt. Paul erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Sie hatte ihr dunkelblaues Chiffonkleid getragen, das so wunderschön mit ihren Augen harmonierte. Ach ja, Jane! Seine Jane! Er liebte sie noch immer. Nach fast zwanzig Jahren.
Und jetzt war sie tot. Er vermisste sie. Doch er war bereit für ein Leben ohne sie.
Kalt und bleich lag sie im Leichenschauhaus, tief versunken in einen Schlaf, aus dem sie nicht wieder erwachen würde. Nie wieder würden ihre Augen im Streit aufblitzen, nie wieder würde er Zeuge ihrer Unbeherrschtheit und Ungeduld werden. Stattdessen würde sie für immer schweigen.
Paul zerknüllte den Brief in seiner Hand. Mit Herzblut hatte er ihn am Tag vor Janes Tod geschrieben. Er hatte ihn nicht abgeschickt. Zum Glück.
Sie hätte wie üblich ihre blonden Locken über die Schulter geschüttelt, den Kopf in den Nacken geworfen und ihr glockenhelles Lachen verlauten lassen.
„Ach Paul, sei doch nicht albern. Zum hundertsten Mal, ich werde dich nicht heiraten. Paul, versteh doch endlich, dass ich nicht dasselbe für dich fühle, wie du für mich! Und ich werde meine Meinung auch in hundert Jahren nicht ändern.“ Genau das hätte sie gesagt. Wie jedes Mal, als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle.
Paul war es leid gewesen, immer nur die zweite Geige hinter George, ihrem verstorbenen Mann, zu spielen. Jaja, George – sie hatte immer all das geliebt, was sie nicht haben konnte. Der gutaussehende, intelligente, kultivierte George – Paul konnte das alles nicht mehr hören, geschweige denn ertragen. Jane sah trotz der Untreue ihres toten Mannes, seinem Jähzorn und seinem unübersehbaren Hang zum Snobismus, noch immer eine Art Heiligen in ihm. Sie hätte alles getan, um seine Liebe zu erlangen, obwohl auch er nur ein Spielzeug und Mittel zum Zweck gewesen wäre. Falsch, sie hatte alles getan. Die Bilder, die Paul schon seit Monaten zu verdrängen versuchte, tauchten vor seinem inneren Auge auf. Blut, die grünen Augen eines Kindes, die ihn ängstlich musterten. Rosen, die mitten in der Nacht eilig auf ein geheimes Grab gepflanzt worden waren. Janes gehässiges Lächeln beim Anblick einer toten Frau, gut verborgen hinter einer aufgesetzten Maske aus Schock und Hilflosigkeit.
Paul schüttelte den Kopf. Er wollte das endlich alles vergessen. Seit Monaten durchlitt er körperliche und seelische Schmerzen. Eine schwere Erkrankung hatte ihn endgültig in die Knie gezwungen. Weder die Ärzte der Spezialklinik in Hampshire noch sein alter Studienfreund Elias Crowe, der mittlerweile einer der berühmtesten Ärzte Großbritanniens war, hatten den Grund für seinen starken Husten und die Schwächeanfälle finden können.
Sein Körper, der früher vital und kräftig gewesen war, war nun ausgemergelt und von den blauen Flecken seiner Stürze gekennzeichnet. Es war nichts mehr übrig von dem alten Paul – dem Paul, der früher allein durch sein äußeres Erscheinungsbild die Frauen verzückt hatte. Obwohl man ihm seine Leiden ansah, duldete es Paul nicht, dass irgendjemand mit ihm Mitleid empfand.

Pauls Körper war erschöpft, doch sein Geist war so wach wie eh und je.
Alle notariellen und testamentarischen Angelegenheiten waren schon längst erledigt worden und es gab nun nichts mehr, dass er tun konnte, um Evan zu helfen.
Evan, den er als Kind gerettet hatte.
Evan, den er stets ohne dessen Wissen finanziell unterstützt hatte.
Evan, der die Wahrheit kannte.
Evan, den er inzwischen liebte, wie seinen eigenen Sohn.

Er hatte Jules, Evans Mutter, gekannt. Sie kam aus derselben Grafschaft und war eine grundanständige Person gewesen. Obwohl er Jane treu ergeben war, musste er doch zugeben, dass er George verstehen konnte. Jane hatte alles was ein Mann zu jener Zeit begehrte: Gutes Aussehen, Charme, Esprit und sie konnte sich ohne große Probleme auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen.
Jules hingegen war eine einfache Frau gewesen, klug aber zurückhaltend, eine Schönheit, die man aber auf den ersten Blick nicht wahrnahm. Sie war stolz gewesen, hatte nie von irgendjemandem abhängig sein wollen und sie hatte sämtlich Bestechungsversuche Janes kühl belächelt.
Jules hatte es nicht verdient so früh zu sterben. Sie war so ein guter Mensch gewesen. Paul rieb sich die Schläfen. Er hätte alles getan um Jules wieder lebendig zu machen. Für Evan. Er hatte mit dem Jungen gesprochen. Eine Woche erst vor Janes Tod. Er hatte keinen Groll gegen Paul gehegt, obwohl sich dieser von Schuldgefühlen überwältigt fand.
Plötzlich tippte ihm von hinten jemand an die Schulter.

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Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 5. Juli 2010