Stell dir vor, es ist Europawahl und keiner geht hin…
Woher kommt diese EU-Verdrossenheit, die gerade unter jungen Europäern um sich greift?
Am 7. Juni war Europawahl. Dazu nahm principessa Stellung:
Ganz so dramatisch wird die Situation am kommenden Sonntag wohl nicht aussehen. Dennoch ist absehbar, dass europaweit wohl nicht gerade mit einem Sturm auf die Wahllokale zu rechnen ist. Laut dpa kommt die aktuelle Eurobarometer-Umfrage zu dem Ergebnis, dass nicht mal die Hälfte der Deutschen überhaupt von dem bevorstehenden Urnengang weiß; zwei Drittel der Wahlberechtigten in der Bundesrepublik haben ohnehin nicht vor, hinzugehen oder wissen noch nicht, ob sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wollen. Nur 31% der Befragten bekundeten ein mehr oder minder ausgeprägtes Interesse an dem Votum. Mit diesen Zahlen liegen die Deutschen im EU-Durchschnitt. Doch woher kommt diese EU-Verdrossenheit, die gerade unter jungen Europäern um sich greift?
Nichts als lästige Einmischung?
Zwar hat sich die Europäische Union selbst den Grundsatz auferlegt, nur dort gesetzgeberisch zu wirken, wo auf nationaler Ebene keine Gesetze erlassen werden oder erlassen werden können – dennoch kommen schon heute rund achtzig Prozent unserer Gesetze aus Brüssel. Gesetze, die uns alle betreffen, uns alle etwas angehen. Eine Tatsache, die eigentlich bürgerliches Interesse auf die dortigen Vorgänge lenken und zum Wahrnehmen der bestehenden Möglichkeiten demokratischer Partizipation motivieren sollte. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Die Gesetzesflut aus Brüssel, die mit immer neuen Bestimmungen über den Krümmungsgrad von Salatgurken oder die Größe von Äpfeln daherkommt, wird von vielen EU-Bürgern als lästige Einmischung einer aufgeblähten EU-Bürokratie in nationale Belange angesehen und dient somit nicht gerade dazu, Sympathien für den Staatenbund zu wecken.
Direkte Demokratie wird kaum gewagt
Ohnehin können sich viele Bürger des Eindrucks nicht verwehren, auf die Entwicklung der Europäischen Union keinen Einfluss zu haben, nicht gefragt zu werden, wenn diejenigen, die dem Namen nach als Vertreter des Volkes gewählt wurden, über dessen Kopf hinweg Entscheidungen zur Zukunft Europas treffen. Der Bürger ist von diesen Entscheidungen meist ausgeschlossen; direkte Demokratie in Form von Abstimmungen und Volksbegehren wird kaum gewagt – zu groß scheint die Angst der EU-Funktionäre vor einem Abstimmungsverhalten der Bürger, das ein weiteres Zusammenwachsen der Europäischen Union und die Übertragung weiterer Kompetenzen von nationaler auf die europäische Ebene gefährden könnte.
Zu oft wird über die Köpfe des Volkes hinweg entschieden
Nicht nur ein Bund ihrer Mitgliedsstaaten, sondern auch und in erster Linie ein Bund ihrer Bürger will die EU sein. Doch zu oft wird über die Köpfe des Volkes hinweg entschieden, als das diese Leitlinie ihrer Umsetzung nahekäme. Volksabstimmungen wie die vereinzelter Mitgliedsstaaten über den geplanten EU-Reformvertrag degradieren sich selbst mehr und mehr zur scheindemokratischen Farce. Es scheint fast, als würden die Bürger lediglich zu dem Zwecke befragt, die Pläne aus Brüssel brav abzunicken. Kommen sie dem nicht nach, wird ihnen die Entscheidung aus der Hand genommen. Diese Erfahrung mussten 2005 die Staatsbürger der Niederlande machen, als sie in einer Volksabstimmung mehrheitlich gegen die Annahme des Reformvertrages stimmten. Der ablehnenden Haltung der Bevölkerung zum Trotz nahm das niederländische Abgeordnetenhaus den Vertrag von Lissabon am 5. Juni 2008 an.
Gerade für junge Deutsche frustrierend
Alles andere als demokratisch mutet auch der Umgang mancher Europapolitiker mit dem negativen Ergebnis des irischen Referendums an: Fünf Wochen nach der irischen Volksabstimmung am 12. Juni 2008, in welcher 53,4 Prozent der Iren den Reformvertrag von Lissabon ablehnten, sprach sich der damalige EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy bei seinem Dublin-Besuch für eine erneute Abstimmung der Iren aus. Manch ein Bürger des Inselstaates wird sich da auch fragen, ob er denn solange abstimmen muss, bis das Ergebnis passt. Demokratie sieht wahrlich anders aus. Dass der deutsche Bundestag sowie der Bundesrat dem Vertrag ihre Zustimmung erteilten, ohne vorher durch ein Referendum die Meinung des Volkes einzuholen, verwundert nicht weiter. Dennoch ist es gerade für junge Deutsche frustrierend, zu sehen, dass sie von ihren Volksvertretern anscheinend in dieser wichtigen Frage nicht für mündig gehalten und an dieser essentiellen Entscheidung beteiligt werden. Immerhin könnte es sich bei dem Reformvertrag von Lissabon um den Vorläufer einer potentiellen EU-Verfassung handeln, die den Schritt der Europäischen Union vom Staatenbund zum Einheitsstaat markieren würde. Die Nichtbeteiligung einer Mehrzahl der EU-Bürger an der Entscheidung über den EU-Reformvertrag schürt so vielerorts die Angst, dass auch eine mögliche Verfassung einst ohne Zustimmung der Bürger in Kraft treten könnte und lässt die Frage aufkommen, ob dies nicht irgendwann auf eine Staatsgründung ohne Zustimmung des Volkes hinauslaufen wird.
Keine Abstimmung ist auch eine Abstimmung
Bei den ablehnenden Referenden der Iren, Franzosen, Niederländer ging es somit um mehr als nur den Inhalt des vorliegenden Vertragswerkes. Es ging um die Zustimmung oder Ablehnung der Bevölkerung zu einem europäischen Kurs des Zusammenwachsens, hin zu einer gemeinsamen Verfassung, einem gemeinsamen Staatsoberhaupt, möglicherweise zu einem futuristischen gemeinsamen Staat. Deutschland und viele seiner europäischen Nachbar- und Partnerstaaten haben ihren Bürgern die Möglichkeit einer solchen Meinungsäußerung nicht gewährt. Aus Ermangelung einer solchen Gelegenheit nutzen nun viele vom Kurs der Europäischen Union frustrierte Bürger die Europawahl, um ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen, in dem sie trotz des verzweifelten Aufrufs der Parteien, von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen, die Abstimmung verweigern – frei nach der Devise: Keine Abstimmung ist auch eine Abstimmung. Eine Abstimmung mit den Füßen.
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Autorin / Autor: principessa - Stand: 4. Juni 2009