Das erste Kind

Wettbewerbsbeitrag von Daniel Selent, 26 Jahre

Das Chaos hatte die Menschheit gezwungen, einen Pfeil auf das Weltall abzuschießen. Umgeben von erhebenden Meeren und schwindender Landmasse blieb ihnen nichts anderes übrig als zuzusehen, wie der Pfeil mit nahezu Lichtgeschwindigkeit das Sonnensystem verließ.
So stellte Kat sich das vor, während sie bei künstlicher Schwerkraft ihren Alltag lebte. Sie musste grinsen beim Gedanken, sich bei rasender Geschwindigkeit an eine Pfeilspitze zu klammern und nicht zu wissen, wann und in was sie einschlagen würde.
Die „Hawking“, das letzte große Menschheitsprojekt, glitt durch die Schwärze des Alls und trug in sich eine Besatzung von mehreren Hundert Crewmitgliedern und tausenden von eingekapselten Menschen, die man auf der neuen Heimat säen würde.
Das Rettungsschiff hatte Kat vor wenigen Tagen ins Bewusstsein zurückgeholt. Ihr Geist kreiste noch um die Zielscheibe, die die Computer als Endstation auserkoren hatten und sie fragte sich, was sie wohl dort erwarten würde. Ein Zurück gab es schließlich nicht mehr.
Der Planet kreiste einsam um einen roten Zwerg. Die Atmosphäre glich der der Erde, was mit dem Nachweis für Wasser und Lebensformen den Ausschlag gegeben hatte.
Als sie auf den Schirmen die braune Perle erblickt hatten und den blauen Schein darüber bewunderten, brach auf Deck Freude aus. Kat grinste beim Gedanken, ihren Partner Leo durch die Flure tanzen zu sehen.
Wochen der Vorbereitungen vergingen. Im weiträumigen Bauch der Arche wurden Landungsflieger hergerichtet, wurden mit allen möglichen wissenschaftlichen Geräten beladen. Kat ging jedem zur Hand und erwartete voller Spannung das Ende einer langwährenden Reise.

Als die Navigatoren das Rettungsschiff in eine stabile Umlaufbahn brachten, fand eine schiffsweite Ankunftsfeier statt. Es wurde entschieden, welche Forscher zuerst einen Fuß auf den Planeten setzen sollten. Kat gehörte dazu.
Der Landeflieger wurde mit Glückwünschen verabschiedet: „Gebt acht und grabt die Erde für uns um!“
Diese Welt hatte jedoch nichts Lebendiges an sich.
Der blaue Schein der Atmosphäre verlor sich, sobald man in sie eindrang, wurde zu einem grauen Nebel der Unsicherheit. Als sich die Sicht klärte und die Besatzung mit eigenen Augen einen Blick auf die Ödnis unter ihnen warf, stöhnte sie verzweifelt auf.
Kat konnte nichts anderes sehen als felsige Landschaften, mächtige braune Gebirgszüge und trockene Gletscher. Keine Anzeichen von pflanzlichem oder tierischem Leben. Wie konnte dies eine zweite Erde sein?
Die Crew wählte eine flache Ebene zum Landen aus, um die herum sich eine gewaltige Bergkette zog. Der Himmel über ihnen glühte rot.
Kat, Exobiologin des Teams, setzte zusammen zwei Geologen einen Fuß auf den staubigen Boden. Um sie herum schauten die gähnenden Berggipfel auf sie herab.
„Das war mal ein Meer“, sagte jemand und sprach aus, was die übrige Besatzung im Sinn hatte. „Wie lässt sich das mit den Daten vereinbaren? Sind wir zu spät?“
Kat schluckte trocken. Es hatte viel Energie gekostet, sie herunterzubringen. Das Rettungsschiff der Anziehung des Planeten zu entreißen und weiterzufliegen war nicht möglich. Ohne Energie war ihre Lage aussichtslos.
Während Kat ihren trüben Gedanken nachhing, baute die Crew ein Basislager um das Landungsschiff herum auf. Unter der Sonne schimmerten die Gerätschaften zur Umgebungsmessung in einem dunkelroten Licht. Die Forscher hatten ihre Helme abgesetzt. Kat tat es ihnen gleich und sog die fremde Luft in ihre Lungen. Leblos, alt. Jedoch konnte sie die Überreste der Photosynthese in der Luft riechen.
Im Laufe des Tages planten die Menschen verschiedene Erkundungstouren, um mit dem Kartografieren des Geländes zu beginnen. Bohrungen sollten Aufschlüsse über die Vergangenheit des Meeres liefern.
Doch dann brach der Boden wenige hundert Meter vor dem Basislager zusammen. „Hier säen wir nichts“, seufzte Leo und folgte den anderen zum Krater. Das Loch sah aus, als hätte eine gewaltige Hand eine Mulde in den Meeresboden gedrückt, eine Kinderhand, die Burggräben für seine Sandburg zieht.
Am Grund des Kraters, der tiefer war als zunächst angenommen, konnten die Wissenschaftler Überreste von Meeresbewohnern ausmachen, sie waren in die Kraterwände eingelassen wie merkwürdige Reliefs.
Einer der Männer, die schwere Gerätschaften mit sich herumtrugen, deutete auf den Grund des Schlunds. „Dort!“, rief er. „Dieser gezackte Schatten. Das ist ein Eingang.“
Das Forscherpaar folgte den Wissenschaftlern zum schwarzen Eingang. Die Stimmen ihrer Kollegen knackten in den Helmkommunikatoren. Es war ein Höhleneingang. Ein in den Meeresboden gehauener Weg führte steil in die Tiefe, in den Bauch der Erde. Einige Männer bauten Stützen um den Schlund herum auf.
„Ich registriere Lebensformen“, verkündete eine Frau in einem grauen Anzug. Auch ihr Blick haftete am Höhleneingang.
Ein paar Forscher versammelten sich um das Gerät, welches die Offenbarungen preisgab. Die Überreste von Lebewesen, doch dort unten… Lebensformen? Der Planet war tot, ausgetrocknet und verlassen, jegliche Lebenzeichen verschwunden vor langer Zeit. Das Wasser war im Boden versickert wie in einem durstigen Schwamm, es gab keine Regenwolken, kein Anzeichen für Niederschlag. Dies war ein Wüstenplanet.
Der Leiter der Expedition sagte: „Wir steigen hinab und erkunden das Innere der Höhle. Laut unseren Messungen dürfte die Tiefe nicht mehr als einen halben Kilometer betragen. Dort unten lebt etwas, wir werden die Sache untersuchen.“
Der Abstieg begann. Kat, Leo, ein Mann namens Fielding und eine Frau mit Namen Fleur verschwanden im Dunkeln. Hinter ihnen wurde das Tageslicht zu einem winzigen Lichtpunkt. Nur wenige Meter voraus wurde der Weg steiler. Zur Sicherheit hatten die vier ihre Helme aufgesetzt, die Helmlampen beleuchteten die Wände. Voraus weitete sich die Höhle zusehends und die Decke verschwand über ihnen.
Der Gang öffnete sich zu einer weiten Kammer. Felsenzacken hingen wie Säulen von der Decke. Feuchtigkeit klebte an den schwarzen Wänden, sie bestanden aus schwarzem Gestein. Der Höhlenboden war bedeckt von Knochen, durchsichtig wie Quallen. Sie machten scharfe Geräusche, wenn man sie zertrat.

„Biolumineszenz“, flüsterte Kat und zeigte mit dem Finger auf die Sackgasse. Etwas Schimmerndes lag dort, zusammengerollt und haarig wie eine große Katze. Zehn Meter vor dem Ende blieben die vier stehen.
Fleur versuchte das Licht wegzublinzeln. „Vier Extremitäten, drahtige Muskeln… Ein Kopf?“
Leo umklammerte Kats Hand und flüsterte: „Bei dem Licht möchte ich Kinder kriegen… Du nicht auch?“ Die anderen schauten ihn verblüfft an, denn er sprach aus, woran sie alle gedacht hatten.
„Gehen wir näher ran“, sagte Kat. Je näher sie kamen, desto mehr Details konnten sie erkennen: Ein Paar Beine, einen ange-schwollenen Bauch, zuletzt ein feines Gesicht, von feuerrotem Haar umrahmt. Spitze Ohren schauten aus Strähnen hervor. Augen, die sich wie im Schlaf unter schimmernden Lidern bewegten.
Staunend kamen die Forscher vor der Elfe im Dornröschenschlaf zum Stehen.
„Sie ist schwanger“, brachte Fielding hervor und hob die Hand an den Mund. Der Helm war ihm im Weg.
Leo schluckte. „Aber womit?“ Er deutete auf den gewölbten Nabel, auf die helle Haut, die sich plötzlich zu verändern begann.
In ihrem Leib trug die elfenhafte Frau Kontinente, Meere, Bergketten und Seen. Darüber zogen winzige Wölkchen dahin, geschwängert von warmem Regen. Vögel flogen über dem Land, fremde Tiere gingen ihrem Tagwerk nach. Die Gestalt spürte die Wehen, worauf sich ein sanftes Lächeln auf ihre Lippen legte. Kat erwiderte es. Sie hatte verstanden.
„Sie bringt ihr Kind zur Welt“, sagte Kat und drückte die Hand ihres Mannes. „Und sie ist selbst ein Kind dieses Planeten. Bald wird auch sie geboren werden.“

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Daniel Selent