Wettbewerbsbeitrag von Anne K. Ramin, 24 Jahre
Fünfunddreißig Minuten bis zur Auslöschung.
Jenna legte die Hände auf ihren Bauch, das Gewicht des Gürtels unter ihrem weißen Anzug beruhigte sie. Sie war lange nicht unter Menschen gewesen. Das Treiben in der Wartehalle des Gläsernen Turms wirkte surreal, Menschen in Militäruniformen, Anzügen oder einfachen T-Shirts, die darauf warteten, dass ihre Nummern auf der Anzeige erschienen wie bei einem Termin im Bürgeramt. Alles für eine Fahrt zum höchsten menschgemachten Punkt auf dem Mars. Kurz schnürte der Ekel Jenna die Luft ab, sie lehnte den Kopf an das Fenster in ihrem Rücken. Der digitale Countdown am unteren Rand ihrer Brille zeigte 33 Minuten und 21 Sekunden.
Ihre Kopfhörer dämpften alle Geräusche über 40 Dezibel, ließen ihre Umgebung zu einem Stummfilm werden, begleitet vom leisen Rauschen der Generatoren unter der Stadt und dem Summen der Sauerstoffkuppel, die vom Gläsernen Turm aus die gesamte Stadt am Leben hielt. Jenna tastete den Gürtel ab, kaum zu bemerken unter dem Raumanzug, ihre Finger waren eiskalt. Bald war es vorbei. Bald war alles vorbei.
Nach all den Monaten, die sie mit Maria in der Wüste verbracht hatte, war sie nicht darauf vorbereitet gewesen, wie sehr sich die Stadt verändert hatte. Straßen aus Asphalt, Fassaden aus Beton und Glas und Stahl, dicht an dicht, Baukräne, Baugerüste, unzählige Menschen, die durch die Straßen wuselten wie Ameisen. Der Blick aus dem Fenster war wie ein Blick auf jede Erden-Großstadt. Die Wüstenlandschaft, die schroffen Felsen, die Pflanzen, für die Maria so gern Namen gefunden hätte, bevor sie der Bauwut der Siedler zum Opfer fielen. Nichts war geblieben.
Über den Schaltern sprangen die Zahlen 2-34 bis 2-51 auf grün, fünfzehn Menschen bewegten sich auf die Sicherheitsscanner zu. Checken, abhaken, ab in den gläsernen Fahrstuhl, der sie 417 Meter in die Höhe brachte. Jennas Nummer war die 2-76.
Es hätte so anders sein können. Sie war als Forscherin gekommen, als Archäologin auf der Suche nach fremden Kulturen, nach Ursprüngen, nach Leben. Vor dem Fenster blinkte gelbes Licht, ein Betonmischer kippte seine Ladung ab. Der Ekel ließ Jennas Magen krampfen, sie presste die Lippen zusammen. Ekel war seit ihrem Erwachen auf dem Planeten ihr ständiger Begleiter, als sie dieselben Geräusche begrüßten wie auf jedem Erd-Flughafen. Unrein. Bürokratisch.
Zwei Männer in Militäruniformen beäugten sie im Vorbeigehen, Jenna tat, als würde sie es nicht bemerken. Ihr weißer Anzug war zu einem Fremdkörper geworden in der Stadt, Überbleibsel einer Zeit, bevor der Mensch diesen Planeten genauso unterworfen hatte wie die Erde. Unter der Kuppel brauchte es keinen Schutz vor Strahlung. Unter der Kuppel braucht es keinen Schutz vor Ozon, keine Sauerstoffzufuhr, die Jenna durch einen Schalter an ihrem Unterarm aktivieren konnte. Der Countdown in ihrer Brille zeigte 13 Minuten und 57 Sekunden.
Die nächste Zahlenreihe sprang auf grün, 2-52 bis 2-77. Jenna erhob sich wie in Trance, ihre Beine fühlten sich schwer an. Sie wollte zurück in die Wüste. Sie wollte zurück zu Maria, so weit weg von der Stadt wie möglich, und weiter nach Schätzen suchen. Die Nähe, der Geruch von Staub und Schweiß und Mensch verursachten ihr Übelkeit. Sie dachte an die Säulenhallen, die sie in den Bergen gefunden hatten und die durch die Erosion kaum mehr als Stein waren, an die Scherben, an die bunten Mosaike aus Materialien, die sie noch nie gesehen hatte. So zerbrechlich. Sie würden sie zerstören.
Mechanisch reihte sich Jenna an Schalter 3 hinter vier Militärs ein. Menschen wie diese waren es gewesen, die mit gepanzerten Fahrzeugen über ihre erste Ausgrabungsstätte gefahren waren. Bürokraten wie die Kontrolleure hinter den Schaltern hatten ihre Anträge zu kulturellen Schutzmaßnahmen abgelehnt, weil das Bauinteresse wichtiger war, weil das nicht ihre Kultur war, die sie zerstörten, nicht ihre Natur, nicht ihre Welt.
Kurz hatte Jenna Augenkontakt mit der dunkelhaarigen Frau hinter ihrem Schalter. Die Kontrolleurin schenkte ihr ein Lächeln und deutete auf das Scangerät. Ruhig atmen, nicht in Panik geraten, es würde funktionieren. Der Anzug war strahlungsresistent, der Scanner würde den Gürtel nicht erkennen. Jenna trat hindurch. Sie brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass die Kontrolleurin die Lippen bewegte. Ihr Herz geriet aus dem Takt. Sie konnten es nicht bemerkt haben. Sie durften es nicht bemerkt haben. Jenna zwang sich, nicht nach dem Gürtel zu tasten, und setzte ihre Kopfhörer ab. Der Lärm war ohrenbetäubend, Getuschel, Geraschel, Gedröhne, Gepiepe, Baufahrzeuge von draußen, Krachen, Bohren, Jenna wollte fliehen.
„Sicherheitsvorschriften.“ Das Lächeln der Frau war bestimmt. „Bitte geben Sie mir die Kopfhörer.“
Jenna wollte nicht.
Sie gab ihr die Kopfhörer und trat zu den anderen Menschen in den gläsernen Fahrstuhl.
Dieser Gestank. Diese Hitze, diese Menschen um sie herum, Magensäure brannte in ihrer Kehle. Neun Minuten. Als die Türen des Fahrstuhls sich schlossen, hielt Jenna die Luft an. Bald war es vorbei. Bald war alles vorbei.
Hinter den gläsernen Scheiben des Turms breitete sich die Stadt aus, immer weiter, endlose Reihen aus Straßen, Häusern, Wolkenkratzern, ein Irrgarten, ein Termitennest, und dann lag die Stadt unter ihr und Jenna konnte das Schimmern der Sauerstoffkuppel sehen, dahinter die Raketenlandebahn, dahinter die Berge, die Wüsten, das letzte bisschen Mars, das geblieben war.
Der Fahrstuhl hielt.
Jenna ließ sich mit den anderen Menschen hinaustreiben. Das Zentrum der Kuppel war direkt über ihr, pulsierend, lebendig, die verschlungenen Stützdrähte, die sich aus der Plattform des Gläsernen Turms erhoben, wirkten wie die Ranken einer Blüte. Einen Moment beobachtete Jenna das goldene Fluoreszieren der Drähte. Der Countdown in ihrer Brille zeigte zwei Minuten und vierzehn. Jenna streichelte über den Sprengstoffgürtel unter ihrem Anzug, zärtlich wie über einen Babybauch, und trat an den Strang, der die Stadt am Leben hielt.
Sie würde sie vernichten.
Zum ersten Mal lächelte sie.
Autorin / Autor: Anne K. Ramin