Abschiedsbrief eines Homo imaginis
Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
Heute ist der Tag an dem ich sterben werde. Ich bin froh, dass ich das mit Gewissheit sagen kann. Bin froh, dass heute alles definitiv ein Ende finden wird.
Als ich heute morgen aufgewacht bin, war alles um mich herum weiß. Die Wände, die Bettwäsche, das Essenstablett, die Lampe und der Stuhl neben meinem Bett. Das erinnerte mich an meine Geburt.
Damals war meine Mutter im Krankenhaus, um mich zur Welt zu bringen, da das Gebären immer noch das größte Risiko in unserer Gesellschaft darstellt. Beinahe jede Krankheit ist mittlerweile ausgerottet oder zumindest so weit erforscht, dass sie nur noch ein minimales Risiko darstellt. Doch der Vorgang der Geburt bedeutet eine Lebensgefahr. Für Mutter und Kind. Ich kann mich an alles ganz genau erinnern. Mein erster Blick in diese Welt zeigte mir das halb verdeckte Gesicht eines jungen Arztes, dessen Augen mich anstrahlten. Sein Mundschutz war von einem klinisch sauberen Weiß, ebenso die Wand hinter ihm. Auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen. Er übergab mich an eine geschäftig drein blickende Schwester in weißer Kleidung, die mich in einen anderen Raum brachte. Dort wartete ein weiterer, älterer Mediziner bereits mit einer kleinen Spritze auf mich. Ich wurde auf eine gut gepolsterte Trage gelegt. Ein Pieks in meinen Oberschenkel, der mich vor einem Großteil der ansteckenden Krankheiten schützen würde. Danach spürte ich einen kühlen, metallenen Gegenstand an meinem Hinterkopf. Er wurde etwas hin und her geschoben, um den optimalen Punkt zu finden. Der Doktor zählt von drei herunter. Ein stechender Schmerz, als der winzige Chip meinen von der Geburt noch weichen Schädelknochen durchstieß.
Dieser Chip unterscheidet mich von den meisten anderen Menschen. Wir, die Homo imaginis, sind die Nachfahren der Homo sapiens. Durch uns hat sich der Mensch selbst weiter entwickelt. Ein paar Wissenschaftler haben Gott gespielt und uns erschaffen. Wir sind nicht wenige und werden immer mehr, doch unsere Existenz ist ein Fehler. Denn der Chip in meinem Kopf macht mich zu einem „Menschen des Bildes“; alles, was ich je gesehen habe bleibt in meiner Erinnerung.
Ich kann nichts vergessen.
Von meiner Geburt bis heute kann ich mich an jede Sekunde glasklar erinnern.
Zunächst erschien es allen wunderbar, dem Gehirn durch ein zusätzliches Speichermedium ein Upgrade zu verpassen. Kein lästiges Vergessen mehr, Alzheimer oder Demenz gehörten der Vergangenheit an, Terminplaner und Organizer waren überflüssig geworden. Doch die Erinnerung ist eine Last. Jahrzehnte füllen meinen Kopf, Millionen von Gedanken und Bildern sind ständig präsent. Es erdrückt mich beinahe. Ich will und kann so nicht weiter leben.
Autorin / Autor: Romy, 16 Jahre