Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
„Beep! Beep! Beep!“, ich wachte verschlafen auf und war sofort genervt. Es war Montag. Wochenplanung steht bevor. Also stand ich auf und war zehn Minuten später, um sechs Uhr dreißig, pünktlich unten am Esstisch und wie immer die Letzte. Meine Mutter verdrehte die Augen, ich hatte mich wieder geschminkt. Dabei war das gerade mal die gegebene Dosis, die ich benutzen darf. Ein bisschen Eyemaker, ein bisschen Rouge und ein bisschen Lipgloss. Das war‘s. Aber sie meinte selbst das wäre schon zu viel und würde unnatürlich aussehen. Gut, bei dem Eyemaker verstehe ich das. Der macht die Wimpern total schön gebogen und extrem lang. Und obwohl meine Wimpern schon richtig lang sind, benutze ich ihn fast täglich. Schließlich machen das alle Mädchen und viele Frauen. Um den Männern zu gefallen. Und die Männer pumpen (manchmal auch mehr als die gegebene Menge) und nehmen Kraft & Power zu sich, ein Pulver, das man zum Essen mischt.
„Also gut, fangen wir an.“ Mein Vater stand auf, ging zum Kasten in dem die ganzen Nachrichten und Meldungen kamen und drückte auf O&P, open and play. Der Kasten öffnete sich in der Mitte und ein Beamer fuhr heraus. Es machte ‚Klick‘ und ein blaues Licht erschien an der Wand. Das Hologramm wurde geladen.
Es wurden drei Häuser angezeigt. Auf dem Ersten standen ‚Aufgaben‘, auf dem Zweiten ‚Sozialdienst‘ und auf dem Dritten ‚Events‘. Wir gingen immer der Reihe nach. Die Aufgaben waren meistens die Gleichen. Eine Woche nach dem Geburtstag kamen meist ein bis zwei Neue dazu. Da ich in einer Woche Geburtstag habe, kann ich noch zwei Wochen auf meine neuen Aufgaben warten. Beim Sozialdienst musste ich meistens im Kindergarten helfen oder Events managen und aufbauen. Mit acht Jahren macht man einen Eignungstest. Mit neun dann noch mal. Sie werden an eine Dienststelle geschickt, die die Interessen eines jeden an einen Dienst anpassen. Diese Woche musste ich aber was komplett anderes machen, ich wurde in das Altenhaus eingeteilt. Im Altenhaus leben die Menschen, die nur noch weniger als zwei Monate zu leben hatten. Je nach Gesundheitszustand wird festgelegt wann du stirbst.
Die Wochenplanung war vorbei und ich holte mein IntBrace – Abkürzung für Internet Bracelet. Das war ein kleines Armband, welches vor einigen Jahrzehnten den Computer ersetzte. Dann ging ich langsam zur Schule. Heute hatte ich keine Lust auf das Auto. Ich brauchte die Bewegung und die frische Luft. Im Auto saß ich nur rum und wartete darauf, dass es an der Schule stoppte und die Türen öffnete. Aus dem Geschichtsunterricht habe ich erfahren, dass man die Autos früher steuern musste und, lenken. Jetzt sitzt man nur drin, gibt den Befehl wohin man will und wird hingefahren. Das war‘s. Manchmal muss man noch die Stadt angeben, oder das Land. Aber mehr nicht.
Ich war seit mehreren Tagen schon nicht mehr in AvBook, also schaltete ich mein IntBrace an, drückte auf den Internetknopf und ging kurz rein. Mein Avatar sah so aus wie ich. Er hatte nur etwas längere Haare. Ich hab meine vor einer Weile kürzer machen lassen, war dann aber doch nicht zufrieden - lang passte besser zu mir. Ich stutzte. Ich hatte elf Voices und drei normale Nachrichten. Ich hörte mir zuerst die Voices an, da die normalen Nachrichten eh von Leuten kamen, die ich nicht persönlich kannte. Es ging meist um Partys oder Treffen, nichts von Bedeutung. Ich loggte mich wieder aus und schloss das IntBrace.
An der Schule angekommen wurde ich stürmisch von allen begrüßt. Ich erfuhr, dass Lia auch ins Altenhaus eingeteilt wurde und freute mich nun umso mehr darauf.
Der Schultag war wie jeder andere auch. Die Lehrer gaben uns Aufgaben, ließen uns was im Internet suchen und veranschaulichten es anhand von Hologrammen. Dann standen oder saßen sie dumm rum und schauten in die Luft. Sobald es klingelte gaben sie uns unsere Hausaufgabe auf und gingen lächelnd aus dem Raum. Eine Stunde mehr geschafft.
Nachdem wir unsere acht Stunden hinter uns gebracht hatten war es um halb zwei und wir gingen fröhlich redend aus der Schule. Früher dauerten acht Stunden bis um drei hat man uns gesagt, weil man da noch nicht so fortschrittlich war, und noch nicht so schnell was lernen oder erledigen konnte. Ich war schon froh, dass ich nicht früher gelebt habe.
„Melli, gehen wir zusammen ins Altenhaus?“, Lia kam von einem gelben Auto schräg hinter mir. Ein Junge schaute ihr hinterher. War ja klar.
„Ja klar, können wir machen.“, also liefen wir zusammen los und unterhielten uns über den neusten Klatsch und Tratsch, schließlich war es Montag und am Wochenende war viel passiert. Ich erfuhr, dass Nicky aus Block neun – wohlbemerkt sie war gut vierzehn – auf einer Party von einem Zehner war und sich total hat zulaufen lassen, und das mit Pushern. Pusher bekommt man erst ab sechszehn, da sie, wenn man zu viel davon nimmt, nicht nur die Stimmung heben, sondern auch ziemlich übermütig machten. Genau das ist Nicky passiert. Ich würde zu gerne wissen wie sie sich gefühlt hat, als sie morgens um halb vier aufwachte und halbnackt in dem Bett seiner Eltern lag.
Außerdem hat Dan seinen Führerschein gemacht, was heutzutage kaum noch wer machte. Doch Dan mochte es mehr das Auto alleine zu steuern, was ein besonderes Modell bedarf.
Die Zeit verging wie im Flug und schon standen wir vor dem Altenhaus. Da wir noch etwas Zeit bis Arbeitsbeginn hatten und ich mich schon auskannte führte ich Lia etwas rum.
Wir erfuhren, dass viele von ihnen Grippe hatten. In mir kam der Verdacht, dass Menschen, die Grippen bekamen, noch früher getötet werden beziehungsweise für die letzte Ruhe gebettet, töten mögen sie nicht so als Begriff. Ja, die Menschen werden an ihrem Sterbetag vergiftet. So wissen sie wann sie sterben und es ist gerecht. Jeder lebt gleich lang. An seinem achtzigsten Geburtstag wird man vergiftet, außer man hat eine Grippe oder sonstige Krankheit, dann schon früher.
Lia und ich liefen die leeren und verlassenen Korridore entlang, begegneten Familien, die sich von ihren Leuten verabschieden mussten, ihre Blicke waren leer und mit Tränen gefüllt. Wir sahen alte Frauen und Männer die in ihren Betten lagen und auf ihren Tod warteten. Und plötzlich wollte ich nicht mehr hier sein. Hier roch es förmlich nach Tod.
Wir kamen an dem Eingang an und meldeten uns. Wir wurden eine halbe Stunde eingeführt; was es alles zu beachten und zu befolgen gibt, wie wir uns im Notfall zu verhalten haben. Natürlich alles anhand Hologramme. Dann bekamen wir einen kleinen runden Pat, den wir an unser IntBrace anschließen sollten und uns die ganzen Daten speichern sollten. Sie meinten, falls wir was vergessen könnten wir es immer nachgucken. So was gab es im Kindergarten nicht.
Dann ging es los. Lia und ich sollten heute erst mal den Leuten vorlesen und uns mit ihnen beschäftigen. Dann ging es immer eine Stufe höher, bis wir sie am Ende komplett verpflegen müssen.
Ich fing mit Herrn Gast an. Er war ein netter alter Mann, ich kannte ihn von früher. Ich hatte ein altes Buch mit, Robinson Crusoe. Seine Augen begannen zu glänzen als ich das Buch auspackte. Er meinte es war sein Lieblingsbuch als er noch in seinen guten Jahren war. Ich begann zu lesen.
„Mädchen, du liest gut, richtig schöne Leserstimme. Heute ist es ja nicht mehr so üblich, jemandem vorzulesen. Da bekommt man einen Stick ans IntBrace dran und eine monotone, langweilige Stimme erzählt dir sonst was für Geschichten. Nein, das ist nicht mein Ding. Ich mochte Bücher schon immer, besonders die Alten. Sie erinnern mich an meine Großeltern. Ach, ich rede zu viel, ich merke schon, mach weiter, gutes Kind.“, ich lächelte ihn an.
„Nein, Herr Gast, ich finde es gut wenn man nicht nur stumm in seinem Bett liegt und zuhört. Man sollte richtig dabei sein, mitfühlen. Das Buch habe ich von meiner Oma bekommen, als sie erfuhr dass sie zur letzten Ruhe gebettet wird. Es ist mir sehr wichtig.“
„Oh jaa. Ich mag solche Geschichten, da fühle ich mich wieder jung und lebendig! … Ach, sag doch einfach, dass man sie tötet, ich sehe in deinen Augen, dass du es als unfair siehst. Ich weiß wie es ist, wichtige Menschen zu verlieren, schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste, oder?! Aber das Leben geht weiter!“
Die Tage vergingen wie im Flug und es machte mir Spaß den Alten vorzulesen, oder mit ihnen Rätsel zu lösen. Manchmal sahen wir uns auch Filme an.
Heute hatte ich Geburtstag. Ich wurde achtzehn. Ich hasste meinen Geburtstag, ich weiß selbst nicht wieso. Deswegen bin ich früh aufgestanden und sofort zu Oma gefahren, sie sagte, ich solle sofort kommen, sie hätte eine Überraschung für mich.
Als ich ankam sah sie mich an, lächelte und umarmte mich so wie es nur Omas können.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ sie mich los und sah mich lange an. Dann stand sie langsam auf und ging zum Schrank.
„Ich…ich hab noch was für dich. Zu deinem Geburtstag. Es ist nichts Besonderes, ich weiß. Es ist auch nichts für viele Zusatzpunkte, ehrlich gesagt, hab ich gar nichts dafür bezahlt.“, sie nuschelte so vor sich hin, während sie im Schrank rumkramte und schließlich mit einem Päckchen zu mir kam und es mir reichte.
Ich öffnete es vorsichtig und zum Vorschein kam ein goldener Kasten. Ich sah ihn mir staunend an, er war mit lauter kleinen Mustern verziert. Meine Oma zeigte mir, wie man ihn öffnete und ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass darin eine wunderschöne, ebenfalls goldene Kette lag. Ich nahm sie behutsam in die Hand. Sie war schwer und an ihr hing ein Anhänger. Ich erinnerte mich, so etwas in einem Film gesehen zu haben. Man konnte ihn öffnen und meine Vermutung bestätigte sich. In dem Anhänger waren zwei kleine Fotos. Ich war wie verzaubert, ich hatte bis jetzt noch nie ein richtiges Foto gesehen, die gibt es nur noch selten, die meisten kenne ich nur von Hologrammen. Die Fotos waren schwarz weiß und zeigten auf der einen Seite einen Mann mit streng zurückgekämmten Haar und Schnauzer und auf der anderen Seite eine Frau mit wunderschön gelocktem Haar.
„Das sind meine Großeltern, also deine Ururgroßeltern. Sie hießen Uwe und Christine. Die Kette ist aus echtem Gold und schon sehr alt. Es müsste so um die 1960er gewesen sein, also gut hundertfünfzig Jahre her.“, sie lächelte mich an und wiedermal bemerkte ich wie gut sie mich doch kannte und wie sehr ich sie liebe.
„Ich werde darauf aufpassen und es meinem Enkelkind weitergeben wenn die Zeit gekommen ist. Ich werde es hüten wie mein Leben. Danke, Oma, du weißt was mir so etwas bedeutet!“, ich umarmte sie und meine Tränen kamen von Neuem.
Sie war doch irgendwie die Beste.