Man trifft im Leben viele Menschen. Da kann es mal vorkommen, dass man zwei Personen trifft, die gleich zu sein scheinen. Folgende Situation hatte sich zugetragen: Ich traf mich mit einem alten Bekannten. Mich hatte es interessiert, wie er sich wohl entwickelt hatte, also hatte ich ihn gefragt, ob er an dem Wochenende, an dem ich in meiner Heimatstadt war, Zeit hatte. Und so saß ich mit ihm vor zwei Tellern chinesischem Essen und spürte dieses Déjà-vu-Gefühl. Ja, ich hatte schon mal mit einem jungen Mann beim Essen gesessen, der diesem Bekannten stark ähnelte. Doch ich wollte unvoreingenommen bleiben, also schob ich diesen Gedanken beiseite. Dies war ein Treffen, eine Verabredung zum Reden. Das Essen mit dem jungen Mann war ein Date gewesen. Warum es bei diesem einen Date geblieben war? Er hatte mit seinem Geld geprahlt. Er hatte sich über Leute in anderen Umständen lustig gemacht. Er hatte auf die Welt herab gesehen, als wäre er Gott. Er hatte gesagt: „Ich lese keine Bücher“. Aber zurück zu meinem Treffen mit dem Bekannten. Wir aßen, erzählten uns einige Geschichten und ich fing an über mein Lieblingsthema zu reden: Bücher. Ich erzählte ihm deshalb von Der Fänger im Roggen und war schon gespannt, was er mir erzählen würde, als er sagte: „Ich lese keine Bücher“. Von da an war ich dann nun doch etwas voreingenommen. Sie ähnelten sich also wirklich. Wir aßen auf, bezahlten und ich erfand eine kurze Ausrede, warum ich keine Zeit mehr zum Spazieren gehen hatte. Planlos ging ich in einen Park und schaute solange zurück, bis ich sicher war, dass er mich nicht mehr sah. Ich ließ mich auf eine Bank fallen.
„So ein junges Mädchen ganz allein abends im Park? Sie sollten aufpassen.“ Ein älterer Mann setzte sich neben mich. Ich schätzte ihn auf circa 70. „Wieso sitzen sie hier?“, fragte er mich. Ich überlegte, ob ich ihm wirklich von meinem Abend erzählen sollte. Eigentlich hatte ich nicht besonders große Lust, den Abend nochmal durchzukauen. Wieso sollte ich auch? Also sagte ich einfach nur: „ Ich war früher oft mit meiner Oma hier. Das Labyrinth da hinten habe ich geliebt. Es hatte einen so großen Reiz für mich, da ich damals noch nicht über die Hecken schauen konnte. Folglich war es für mich wie ein richtiges Labyrinth. Jetzt hat es jeglichen Reiz verloren, ich kann über die Hecken sehen, ich brauche keine Angst mehr zu haben, dass ich nie wieder dort hinaus finde. Es haben wie so viele Dinge mit dem Älterwerden ihren Reiz verloren…“ Okay, das war eine Anspielung auf meinen misslungenen Abend. Ich wollte eigentlich nicht darüber reden, also bereute ich den letzten Satz sofort wieder. „Wie alt sind Sie?“, fragte er. „19.“ „Und da denken Sie schon, das Leben hätte seinen Reiz verloren?“ „Ich treffe viele Menschen. Doch diese interessieren mich alle nicht.“ Er schaute mich an. In seinen Augen sah ich die vielen Jahre, die er durchlebt hatte. Ich wollte auf einmal unbedingt wissen, wie ich weitere 50 Jahre überleben sollte mit Abenden wie diesen. Also fragte ich ihn. Er antwortete:
„Ich will Dir jetzt nicht meine Lebensgeschichte erzählen. Aber ja, man wird immer wieder im Leben enttäuscht. Also warum ist man auf der Welt? Was ist der Sinn des Lebens? Ich bezweifle, dass du Dir in deinem Alter Fragen wie diese stellst. Aber das kann ich auch nur vermuten, vielleicht liegst du jeden Abend im Bett und stellst Dir diese Fragen. Vielleicht gehörst du auch zu den jungen Menschen, die sich jeden Abend die Frage stellen, was sie morgen tun. Ich habe mir oft die Frage gestellt, was passiert wäre, wenn ich in einem anderen Körper geboren worden wäre. Was passiert wäre, wenn ich in einer anderen Zeit jung gewesen wäre. Meine Erkenntnis: Ich möchte nichts mehr an meinem Leben ändern. Jedes Alter hat seinen Reiz, jeder Abend, jede Minute. Überlege einfach, was du jetzt gern ändern würdest und merk es dir. Ändere es beim nächsten Mal und sei froh über die Erfahrung. Denn Erfahrungen sind wertvoller als alles andere. Die schlimmsten Erfahrungen können zu den besten Momenten gehören. Warum? Naja, jede Erfahrung führt zu einer Entscheidung, selbst wenn es nur eine kleine Entscheidung ist. Und jede Entscheidung bringt dich weiter.“
Ich starrte ihn an. Fassungslos von den vielen Ratschlägen, die er mir gegeben hatte. Ich hatte nie gedacht, dass gerade ein Mensch wie dieser meine Ansichten wieder ändern könnte. Als ich „Danke“ sagte, nickte er mir zu und verschwand.