Erste Helgoland-Reise, Pfingsten 1973, Freitagmorgen. Spät verließ ich meine Bremerhavener Wohnung. Vor der Abreise fielen mir noch viele Dinge ein, die zu erledigen waren. Dann eilte ich im Laufschritt an den weiträumigen Hafenanlagen entlang. Die Reisetasche an meiner Schulter wog schwer und schwerer, ich hatte die fußläufige´Entfernung zum Schiffsanleger unterschätzt. Hoffnungsvoll sah ich mich um, ob mich ein Auto mitnehmen würde. Nein. Mein Herz klopfte laut, als ich die ‚Roland von Bremen‘ erreichte, das Passagierschiff lag noch vertäut an der Columbus-Kaje. – Nu ward dat aver Tied, mien Deern! Das war der Fahrkartenkontrolleur. Ich hastete über den Steg an Bord. Der wurde hinter mir an Land gezogen. Dann drang das Kommando ‚Leinen los‘ in mein Ohr. Unter Deck suchte ich mir einen Platz und durchfuhr ungeduldig die Stunden, bis das Schiff auf Helgolands Reede vor Anker ging. Ausbooten. Mit einem kühnen Schritt und den helfenden Händen zweier Seeleute sprang ich in das schaukelnde Motorboot, setzte mich auf eine schmale Holzbank, nahm die Reisetasche auf die Knie und ließ mich mit anderen Passagieren in den Helgoland-Hafen tragen.
Dort wartete ER: mein Mann. Das war er seit acht Wochen. Seit zwölf Wochen war er dort Soldat, beobachtete in Helgolands Radarstation Flugzeuge, lebte in der Insel-Kaserne. Jedes zweite Wochenende hatte er frei, um zu mir zu fahren. Meine Pfingstreise sollte die lange Trennungszeit wenigstens einmal verkürzen. Pfingsten beginnt auf der Insel die Seglersaison. Wir hatten das nicht bedacht, buchten sehr spät. Ich bekam das letzte Einzelzimmer in einer Pension. Herrenbesuche untersagte die Wirtin streng. Die Matratze, argumentierte sie, würde zu stark beansprucht. Ihre Direktheit berührte mich peinlich. Mein Mann müsste in der Kaserne übernachten. Ja, sagte ich. Am späten Freitagnachmittag war ein Knopf von seiner Hose abgerissen. Ich hatte Nadel und Faden im Reisegepäck, wir gingen auf mein Zimmer, ich befestigte den Knopf, wir verließen das Zimmer. Im Foyer übergoss uns die Wirtin mit Beschimpfungen, die wir in dem ausgebuchten Helgoland widerspruchslos ertrugen.
Wir spazierten über die rote Felseninsel. Zuerst das Unterland: Läden, Restaurants, Zimmervermietung. Dann über die Treppe zum Oberland, Gastbetriebe, Wohnhäuser, Schule, Kirche, Kaserne. Dahinter Weiden, Bombentrichter. Lange küssten wir uns vor der Langen Anna, schauten von den Klippen hinab auf die Nordsee, hofften vergeblich, darin einen Seehund zu entdecken. In einem Wellental des Inselrückens stand die Radarstation, in der mein Mann Dienst tun musste, Pfingsten gleich zweimal, Samstag und Sonntag. Abends gingen wir in ein Restaurant, bestellten wieder und wieder Kleinigkeiten, um möglichst lange dort zu sein, bis er um 22 Uhr zurück in die Kaserne muss. An seinem ersten Diensttag durchstöberte ich die Läden der Insel, lief allein den Rundweg auf dem Felsrücken entlang, winkte ihm zu, als ich am Fenster der Radarstation vorbeikam. Am zweiten Tag fuhr ich mit einem Boot zur Düne. Bedeckter Himmel, ich legte mich an den Strand, ertrug diesen Tag, merkte nicht, dass die vom Sand reflektierten Strahlen meine Haut traktierten. Erst am Abend spürte ich den Sonnenbrand, erlebte im einsamen Pensionszimmer eine heiße Nacht, stöhnte vor Schmerz und kühlte meine brennende Haut mit feuchten Tüchern.
Am nächsten Tag suchte ich nur noch Schatten. Nachmittags fuhr mein Schiff zurück. Nie wieder Helgoland, beschloss ich auf der ‚Roland‘. Das Nie dauerte vierzig Jahre.
Zweite Helgoland-Reise, Pfingsten 2013. Samstagmorgen. Vor drei Monaten wurde ich 59 Jahre alt. Vor zwei Monaten feierten wir unseren vierzigsten Hochzeitstag. Vor einem Monat buchten wir die Schiffspassage und das Appartement. Jetzt reisen wir von Cuxhaven aus, bestellen ein Taxi, lassen uns zur ‚Alten Liebe‘ chauffieren, dort legt der ‚Halunder-Jet‘ ab. Der Katamaran ist kleiner als die ‚Roland‘ von damals, er macht im Inselhafen fest. Kein Ausbooten. Auf der Insel lächeln uns Häuserreihen zu, bergen in ihrer Mitte unser Zimmer, das nimmt uns freundlich auf. Wir laden das Gepäck ab, durchstreifen die Insel. Das geschäftige Unterland haken wir ab, uns drängt es zu Höherem. Wir erklimmen die Treppe zum Oberland. Mein Herz klopft laut, als ich oben ankomme. Dort steuert mein Mann auf die Kaserne zu. Sie ist keine mehr, das Haus wird von einem Klimaforschungsinstitut genutzt. Wir promenieren über den gepflasterten Klippenrundweg. Auf Tafeln ist die Inselhistorie notiert. Ich knüpfe Zusammenhänge, begreife die strategische Lage Helgolands, verstehe die europäische Geschichte besser und die geologische. Das Ende einer schräggestellten Buntsandsteinschicht taucht hier an die Oberfläche, wird zu der Insel, die dem Ansturm des Ozeans trotzt. In der Jungsteinzeit gab es eine Landverbindung zu Westfriesland, weil der Meerwasserspiegel niedriger war. Am Lummenfelsen durchdringt das Konzert der Seevögel den Gesang der Wellen. Die Tiere brüten auf schmalen Gesteinsvorsprüngen, stürzen sich jubelnd in den Wind, jagen in den Wellen. Ein Alk ist tot, reglos kleben die Flügel am Fels, der Hals hängt über den Rücken hinab, gräulich sein dunkles Gefieder.
Gräulich auch die Außenwand der Radarstation, funktionslos geworden durch das politisch zusammenwachsende Europa. Die Insel ist ein Abenteuerfels. Wir entdecken im Unterland einen Weg zu den roten Klippen. Ein Sandstrand im Osten mit Helgoländer Feuerstein, einen nehme ich mit. Wir steigen eine Treppe hinauf, überqueren den Inselrücken, klettern am westlichen Steilhang hinab. Hier wächst Helgoländer Klippenkohl, er steht unter Naturschutz. Ich setze mich neben eine der Pflanzen, streiche sanft über ihren Krauskopf und überlege: Gab es sie damals schon?
Damals sah ich nichts von dem, das zu entdecken mich jetzt beglückt. Was hat sich zwischen den beiden Pfingstfesten in mir verändert? – Ich bin auf dem Weg, achtsam zu werden.
Montag, wir nehmen Abschied von der Insel, wandern zur Langen Anna und langsam weiter zur Inselspitze. Im Gehwegpflaster entdecke ich eine Windrose. Ich stelle mich in ihre Mitte. Mein Schatten legt sich über die Linie nach Nord: es ist ein Uhr – Sonnenhöchststand. Ich fühle mich eins mit dem All und den Menschen, denn ich werfe einen Schatten in das Geflecht aus Universum und Schaffenskraft.
Ich möchte hier bleiben, mehr verstehen, der Musik des Meeres und der Seevögel lauschen – wie die Lange Anna.
Autorin / Autor: Eleonore Born, fast 60 J.