Kirschblütenlachen

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Wenn sie mit fahrigen Fingern über die Rinde des alten Baumes streicht und die feinen Adern der Borke auf ihrer Haut spürt, dann denkt sie an früher und Tränen laufen ihr über die Wangen. Ihre trüben Augen wandern den Stamm hinauf und verlieren sich im Grün des Blätterwerks und dem Tanz der Sonne, die mit diesen Blättern spielt, Tag für Tag. Die nackten Zehen graben sich in die Erde um die Wurzeln herum und wünschen sich die Zeit zurück, in der sie mit spielerischer Leichtigkeit die Weite der Welt erfasst haben. Die Weite ihrer Welt. Sie war klein gewesen damals, die Welt. Heute ist ihr Umfang nicht mehr zu begreifen. Das einzige, was existiert, ist das Backsteinhaus, das mit geduldiger Ruhe der rasenden Wirklichkeit um sich herum standhält und der Garten, der zu ihm gehört wie ein Kind zur Mutter. Und in dem Garten der Baum. Eine Schaukel hing an den unteren Ästen, sie hatte es geliebt, darauf fliegen zu lernen.
Sie dreht sich vom Baum weg und betrachtet ihr Haus. Ihren Mann, der in einem der Fenster steht und die Hochhäuser am Horizont malt.

Der erste Schritt ist der Schlimmste. Sie ist kein kleines Kind mehr. Der Schmerz zuckt in ihrer Hüfte hoch, und sie verzieht das Gesicht. Ihr Mann sieht zu ihr hinunter, und ein Lächeln huscht über sein Gesicht.

Ganz langsam setzt sie ihren Weg zum Haus fort und konzentriert sich auf das feuchte Gras, das unter ihren Fußsohlen kitzelt. Er wartet in der Tür auf sie, als sie die Terrasse erreicht, streckt er einen Arm aus und ergreift ihre Hand, hakt sich bei ihr unter und führt sie ins Wohnzimmer. Die Liebe in seinen alten Augen rührt sie.

Die Dielen knarren, als sie darüber gehen. Fröhliches Kinderlachen schwebt als staubiges Echo in der Luft. Sie muss lächeln als sie es hört, und ganz automatisch wandert ihr Blick zu der kleinen Dose, die auf dem Sims über dem Kamin steht, zwischen schwarz-weißen Fotos von Kindern, die längst keine mehr sind. Die Dose mit den kleinen rosa Blüten, handbemalt von ihrem Mann. Niemand darf sie öffnen, doch das hat auch niemand je versucht. Seit diese Dose dort steht, hat sie niemand mehr besucht, der es hätte wagen können.

Mit einem leisen Stöhnen lässt sie sich auf das alte Sofa sinken.
„Möchtest du etwas trinken, Schatz?“ Aus seiner Stimme spricht zittrige Angst. Sie nickt. Als er ihr Wasser bringt, trinkt sie in winzigen Schlucken, und es brennt in ihrer Kehle. Sie lächelt zu ihm auf, und die Angst verschwindet. Sie will ihm nicht wehtun.
Das Glas wiegt schwer in ihrer Hand, sie beugt sich vor, um es auf das Tischchen zu stellen, doch die Kraft reicht nicht bis zum Schluss. Mit einem Klirren zerspringt das Glas auf dem Boden, und Wasser spritzt kalt gegen ihre Beine. Sie schließt die Augen und lauscht dem Kinderlachen aus der Dose auf dem Kamin. Würde sie sie jetzt öffnen, dann würde es hinausfliegen, und dann wäre es so laut, dass auch ihr Mann es hören könnte. Und dann würden seine Augen leuchten, und er würde sich neben sie setzen und den Arm um sie legen, und sie würde seinen würzigen Geruch ganz nah neben sich spüren und sich erinnern, an all das erinnern, was sie in ihrer Vergangenheit verloren haben. Der Gedanke tanzt durch den Raum, so wie sie selbst es früher getan haben, zu Musik von Joe Cocker und Phil Collins, bis sie nicht mehr konnten und sich lachend auf den Boden warfen, nebeneinander, die Finger verschränkt.

Ihre Hände zittern als sie versucht, sich vorzubeugen und die Scherben aufzusammeln.
„Lass nur, Schatz, ich mach das.“ Auch seine Knochen sind alt. Trotzdem lehnt sie sich zurück. Durch das große Fenster kann sie ihren Baum im Garten sehen und den Schatten einer Schaukel, die dort früher im Wind hin und her geschwungen war. Dahinter die Hochhäuser, die grau in den Himmel wachsen und aus hunderten nackten Augen zu ihr hinüber starren. Ihr Herz wird schwer, wenn sie diesen Blick erwidert.

Ihr Mann richtet sich auf, Scherben in den müden Händen. Wieder lächelt sie und verdrängt die Sehnsucht nach einem Kuss von diesen Lippen, die sie seit Jahren nicht mehr berührt haben. Er liebt sie. Auch jetzt noch, wo ihre Schönheit verblasst ist, das Tanzen im Mondlicht nicht mehr möglich und ihr Lachen eingeschlossen in einer Dose mit kleinen weißen Blüten darauf. Er liebt sie, aber er weiß nicht, wie man das zeigt. Sie hätte es ihm gerne gesagt, aber Worte fallen ihr schwer in letzter Zeit.

Sie wünscht sich ein Kind, ein Enkelchen vielleicht. Ein kleines Mädchen, für das man erneut eine Schaukel in den Baum hängen könnte, und dem man beim Herumtollen im Garten hätte zusehen können. Ein Mädchen, das all das hätte tun können, was ihr nicht mehr möglich ist. Doch dafür ist es zu spät. Sie haben keine Kinder und ihre Chance vor Jahren schon verspielt.

Ihr wird bewusst, dass sie niemanden hat, dem sie die Dose schenken kann, wenn sie einmal nicht mehr ist. Die Erkenntnis gräbt ihr ihre Klauen in den Magen. Ihr wird schlecht. Langsam erhebt sie sich und geht auf den Kamin zu. Ihre Füße hinterlassen nasse Abdrücke auf dem Holz. Vor der Dose bleibt sie stehen, sieht sie an. Die Blüten sind schön, sehr schön sogar. Sie erinnert sich an den Tag, an dem ihr Mann sie aufgemalt hat. Sie haben gemeinsam im Garten gesessen, es hat geregnet, die Harre hatten ihnen triefnass auf der Stirn geklebt und die Kleidung an ihren Körpern. Und während die Tropfen auf der Erde zersprangen und mit dem Licht der Sonne spielten, die sich langsam wieder durch die Wolken schob, hatte er mit ruhigen Händen winzige Pinselstriche gezogen. Sie hatte ihm dabei zugesehen und irgendwann hatte sie sich getraut, ihre Hand auf sein Knie zu legen. Der Blick, den er ihr zuwarf, hatte sie zum Lachen gebracht, laut und ein ganz kleines Bisschen verlegen, und dieses Lachen war in der Dose verwahrt, das Lachen einer Liebenden.
Sie hat nicht gemerkt, dass er hinter sie getreten ist und zuckt zusammen, als sie seinen Atem auf der Haut spürt.

„Was machst du, Schatz?“, fragt er und streicht sanft über ihre Hand, die die Dose umschlossen hält. Wieder hört sie die Sorge, die in seinen Worten mitschwingt, und mit einem Lächeln wischt sie sie fort. Sie stellt die Dose zurück, und er lässt ihre Hand los. Enttäuschung schlägt ihr die Krallen in ihr Herz. Sie schließt die Augen, während sie die Hand sinken lässt, spürt, wie sich seine Wärme entfernt. Als sie sich umdreht, steht er schon beinah wieder in der Küchentür. Noch immer sind ihre Füße feucht. Unschlüssig steht sie mit dem Rücken zum Kamin und sieht ihn an, sieht in ihn hinein und findet das Herz eines jungen Mannes, des Mannes in den sie sich einst verliebt hat. Und mit jeder Sekunde, die sie ihn beobachtet, schlägt dieses Herz schneller, bis sich sein Besitzer langsam in Bewegung setzt. Die Dielen knarren unter seinen schweren Schritten, dann steht er vor ihr und sie erkennt die Jugendlichkeit, die sich hartnäckig in seinen Falten eingenistet hat.

Auch nach all den Jahren bleibt sein Kuss ein Feuerwerk, ganz genau so, wie sie es in Erinnerung hat, vielleicht sogar schöner.
Die Dose fällt vom Kamin, die weißen Blütenblätter schweben vom Wind aufgewirbelt durch den Raum und als jedes einzelne behutsam seinen Platz auf den Dielen gefunden hat, dringt das Lachen aus ihnen hervor, so laut, das es bis hinaus auf die Straße zu hören ist.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Die Jury

Schöne Preise für die schönsten Einsendungen

Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: von Sofia, 16 Jahre