Dieses Wochenende wollte ich eine Freundin im Süden besuchen fahren. Ich bin 18 Jahre alt, fahre seit fast zwei Jahren Auto und wollte die Strecke alleine bewältigen. Blöde, das meine Eltern genau dieses Wochenende auch das Auto brauchten. Also stehe ich am Samstag morgen in aller Frühe am Hauptbahnhof in Hamburg. Ich betrete die Autovermietung, wo eine ältere Dame am Schreibtisch sitzt. „Was kann ich für dich tun, Kindchen?“, fragt sie mütterlich. Es stört mich nicht, dass sie mich so anredet. Ich sehe einfach nicht sehr alt aus und für ein ausgereiftes Make-Up war diesen Morgen noch keine Zeit. „Ich würde gerne ein Auto leihen.“, antworte ich ihr und auf ihrer Stirn bildet sich eine tiefe Falte, als sie mich genauer mustert. „Wie alt bist ...du?“ Sie zögert einen Moment und scheint zu überlegen, ob sie mich hätte siezten sollen, als ich den Führerschein aus meiner Tasche ziehe. „Ich bin achtzehn.“, sage ich laut und deutlich, ich will nicht wie ein kleines, schüchternes Mädchen scheinen. Die Furche auf ihrer Stirn vertieft sich einen Moment, dann sieht ihr Gesichtsausdruck beinahe mitleidig aus. „Du bist nicht alt genug, ein Auto zu leihen.“ Ich schaue sie verwirrt an, deute auf meinen Führerschein und sage: „Aber ich bin volljährig und ich kann fahren.“ „Es tut mir Leid. Ich kann dir aus versicherungstechnischen Gründen keinen Wagen geben.“, erwidert die Dame entschuldigend und murmelt noch etwas von „Erfahrungen“ und „Fahrpraxis“. Ich bedanke mich und verlasse die Vermietung. „Dann eben mit dem Zug.“, denke ich und mache mich auf den Weg zum Ticketautomaten.
Vor mir steht ein alter Mann und versucht das nötige Kleingeld für ein Bahnticket zu finden, doch die kleinen Münzen entweichen seinen zitternden Fingern. „Geht das nicht schneller?“, ruft ein junger Mann genervt aus der Schlange, die sich langsam hinter mir gebildet hat. Er trägt eine Aktentasche und schaut gestresst auf seine Uhr. Doch anstatt zu helfen, bleibt er einfach stehen und wippt ungeduldig mit dem Fuß auf dem Boden.
Eine der Münzen entgleitet dem Mann und er ächzt, als er in die Knie gehen will, um das Geld aufzuheben. Ich komme ihm zuvor und drücke ihm die Münze zurück in die Hand. Missmutig schaut er mich über den Rand seiner Brille an und versucht dann, dass Geld in den Automaten zu schieben. „Kann ich Ihnen helfen?“, frage ich den Mann freundlich, doch er schiebt die letzten Münzen mühsam in den Spalt. Als er nach dem Ticket greift, dreht sich der alte Mann zu mir um. „Sehe ich aus, als bräuchte ich Hilfe?“, fragt er böse. „Ihr jungen Leute denkt auch ihr könnt alles schneller und besser!“ Dann läuft er auf zitternden Knien davon. Ich schaue ihm kurz hinterher und spüre einen Stich im Herzen. Ich hätte ihm gerne geholfen. Doch ich höre das laute Schnauben, der Leute hinter mir und sehe zu, dass ich mein Zugticket bekomme. Als ich das Menü jedoch öffne, stocke ich einen Moment und Wut schäumt kurz in mir auf. Zu jung für einen Mietwagen, aber zu alt für eine Kinderkarte der Bahn. Entscheiden kann sich hier auch keiner, oder? Zu alt, zu jung. Mir reicht es, ich lasse den Automaten mit seiner Altersbegrenzung einfach stehen. Die Schlange hinter mir stöhnt genervt auf, weil ich ihnen weitere Minuten ihrer kostbaren Zeit gestohlen habe. Sie werden schließlich auch nicht jünger, während sie dort warten.
Frustriert lasse ich mich auf eine der Bänke fallen. Die meisten sind auf dem Weg zur Arbeit um diese Uhrzeit, doch ein paar sind einfach die letzten Partygänger der Nacht, die die ersten Züge morgens nach Hause nehmen.
Ein junges Pärchen sitzt mit Bierflaschen küssend ein Stückchen weiter. Unter dem viele Make-Up und dem entsetzlich engen Kleid mit durchscheinendem Push-Up BH lässt es sich schwer beurteilen, aber das Mädchen ist garantiert nicht alt genug für Alkohol. Der Junge neben ihr hat die kindlichen Rundungen noch nicht verloren und die hohe Stimme kaschiert er mit Zigaretten.
Weitere Menschen haben sich auf der Bank neben mir niedergelassen. Sie starren auf ihre Handys oder blättern in Zeitungen. Ich beobachte sie alle, wie sie so da sitzen, keiner mit einem Lächeln im Gesicht. In dem Moment fällt mir eine Frau auf, die auf die Bank zu kommt, sich auf einen Rollator stützend. Sie steht direkt vor mir und schaut mich erst erwartungsvoll, dann missbilligend an. „Kein Respekt vor dem Alter“, schimpft sie, „wenn Sie einmal so alt sind, werden sie auch hoffen, dass jemand Ihnen hilft, oder Ihnen wenigstens den Platz anbietet, damit sie nicht stehen müssen.“ Ich will ihr erklären, dass sie natürlich meinen Platz haben kann und es mir leid tut, nicht schnell reagiert zu haben, aber da ist sie schon vorbei und ich schaue ihr betroffen hinterher.
Während ich hier so zwischen den unterschiedlichsten Menschen sitze wird mir etwas klar. Die einen wollen viel zu schnell erwachsen werden. Sie können es nicht erwarten ihren Eltern zu entfliehen. Die anderen blicken zurück auf ein langes Leben mit vielen Erfahrungen und wünschen sich, sie wären wieder jung, mit dem selben Wissenstand. Sie wollen sich nicht von Jüngeren, die viel weniger erlebt haben, helfen lassen, während wieder andere genau diese Hilfe brauchen und sie nicht bekommen.
Alle stressen wir durch das Leben suchend nach einem Ziel, ohne kurz Pause zu machen und das zu genießen, was wir gerade haben. Ich bin achtzehn. Ich weine meiner Kindheit nach, wieder unbeschwert herumzutoben und im Garten zu spielen. Ich hoffe, schnell älter zu werden, endlich zu Hause auszuziehen und mich komplett selbst zu entfalten. Ich denke nach vorne und nach hinten, aber ich lebe im Jetzt und daran denke ich nicht.
Wir eifern der Zukunft entgegen oder trauern der Vergangenheit nach, sind aber nie glücklich mit dem Jetzt. Ich sehe es in so vielen Gesichtern, die an diesem Morgen am Bahnhof, ohne ein Lächeln auf den Lippen, das Leben in diesem Moment an sich vorbeiziehen lassen.