Wenn ich ihn so von der Seite betrachte, wird mein Herz irgendwie schwer. Manche nennen es "Mitleid", aber das ist der falsche Begriff. Ich leide ja nicht mit ihm. Ich weiß, dass es nun langsam zu Ende geht; ich weiß, dass seine Tage gezählt sind, und das stimmt mich irgendwie traurig. Natürlich weiß ich auch, dass es besser für ihn ist, viel besser sogar. Aber es ist einfach schade, diesen Menschen mit diesen besonderen Eigenschaften aus dem Alltag zu verabschieden. Denn von einem "Verschwinden" kann ja wohl keine Rede sein.
Wie viele Menschen jammern, dass sie ihm ja "so gern helfen würden". Aber das können sie doch, bzw. hätten sie es gekonnt! Sie hätten nur ihre Augen bzw. ihr Herz öffnen müssen. (Schon wieder so ein komischer Ausdruck, wenn man darüber nachdenkt...)
Es ist ziemlich warm in der Küche, aber ich lehne mich trotzdem mit dem Hintern gegen die Heizung, um seinen Rücken massieren zu können. Seltsam sitzt er da. Den Mund nur dürftig mit einem Tuch abgewischt, die Hälfte seines Mittagessens steht noch am Tisch. Der Rücken ist krumm; er stützt sich nirgendwo ab, hängt einfach nur auf seinem Stammplatz auf der Eckbank. Träge schaut er drein; die Augen halb geöffnet, mit Blickrichtung ins Leere. Es sieht ganz so aus, als ob er selbst nicht weiß, was er tun soll - essen geht nicht, schlafen geht nicht, laufen geht nicht, leben... geht nicht. "Opa, du musst aufessen! Sonst scheint die Sonne morgen nicht!", sage ich auf meine dumme, kindliche Weise. "Hm? Die Sonne scheint nicht mehr", entgegnet er mir trocken.
Ich schlucke. Denke. Verstehe.
Ich fange an, behutsam aber bestimmt seine Schulter zu massieren. Dass durch die fünf Schichten, bestehend aus Hemden, Pullunder und Bademantel überhaupt etwas durchkommt, ist erstaunlich. Ich merke, wie er sogleich regelrecht "versucht", sich zu entspannen. Die kreisenden Bewegungen sind wie ein Dominostein, die eine ganze Kettenreaktion in seinem Körper auslösen. Der Rücken wird noch krummer, aber lockerer. Die Arme hängen nun locker herab, seine Ellenbogen liegen auf den Oberschenkeln. Auch seine Beine hält er nun nicht mehr krampfhaft zusammen, sondern gesteht ihnen links und rechts neben dem Tischbein mehr Platz ein. Die Augen schließen sich. Der Mund ist offen. Langsam schlägt das Herz.
Ich fange an, die Massage auf den ganzen Rücken auszuweiten. Probiere verschiedene Stellen und Kniffe aus; variiere den Druck so, wie ich ihn gerade für gut halte. Wir reden nicht. Schauen nicht auf die Uhr. Ich sehe, wie er immer weniger wird. Wie ein kleines Häufchen, das einfach... ja, das einfach weniger wird. Ein kurzes Aufbäumen, eine Zuckung; dann wieder Reduzierung, Entspannung, Erleichterung.
Schließlich... nur noch Erleichterung.
Ich fühle die Kraft, die er einst hatte und sehe ihn vor mir, wie er gelebt hat. Wie er sich für andere und die Welt eingesetzt hat. Er hat seinen Dienst getan, hat seine Mission erfüllt. All das, was er auf Erden getan hat, hat irgendwie seine Spuren hinterlassen. Auch bei mir. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer positive Spuren waren. Es war gut so. Es hatte seinen Zweck. Mit diesem Gefühl, dass es gut so ist, so, wie es ist; damit kann ich ihn gut verabschieden. Er weiß das auch.
Noch eine Zuckung, eine ganz kleine. Dann wandern die Ellebogen auf den Tisch; der Kopf sinkt tiefer, immer tiefer, bis er in den trockenen, faltigen Händen ruht. Das rechte Bein nun weit von sich gestreckt, sodass zwischen Hausschuh und Hose die weiße, nahezu leichenblasse Haut hervorsticht, liegt er da, lässt sich bearbeiten. Wir beide wissen, unsere Abmachung steht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.
Ich habe gemischte Gefühle. Einerseits fühle ich mich meiner Sache sicher; weiß, was mich erwartet und bin auch ein ganz kleines bisschen stolz, dass er mir so sehr vertraut und mich für diese Aufgabe auserwählt hat. Auch wenn wir früher nie wirklich viel miteinander zu tun hatten. Das, was wir heute teilen, ist nichts Irdisches, nichts von dieser Welt. Nenne man es eine andere Dimension, eine andere Ebene. Es gibt kein Begriff, der dieses gegenseitige Verständnis, das weder ein Gefühl, noch ein Gedanke oder gar Materie ist, umschreibt. Dieser Begriff muss erst noch erfunden werden. Und andererseits... andererseits... wenn ich so recht darüber nachdenke, gibt es gar kein andererseits mehr.
Er, sein Häufchen, wird weniger.
Immer weniger.
Er geht.
Ich höre mit meinen Ohren, wie seine Atemzüge tiefer und langsamer werden.
Ich sehe mit meinen Augen, wie er immer mehr in sich zusammensinkt.
Ich spüre, dass die Zeit gekommen ist.
Ich begreife den Abschied (ein sehr, sehr herzlicher!). Er geht, dreht sich nicht noch einmal um. Richtig so. Er geht seinen Weg. Und ich gehe meinen. Winke ihm noch kurz hinterher. Ich muss weinen.
Kehre zurück in die Realität, oder das, was man Realität nennt. Ich weiß für einen Moment nichts mehr mit mir anzufangen. Starre, wie er vor wenigen Minuten, ins Nichts. „Zeit heilt alle Wunden“ heißt es so schön. Aber ich hab ja gar nicht vor Trauer geweint. Es war ein Moment des höheren Glücks – für uns beide. Ein unbeschreiblicher Moment. Trotzdem fühle ich mich komisch.
16:45:00 Uhr - Er ist friedlich eingeschlafen.
16:45:01 Uhr – Meine Oma betritt den Raum.
16:45:02 Uhr – Entsetzen. Und ich bin der Mörder.