Charlie wacht so halb auf – nein eher nur ein viertel – und ihm brummt der Schädel.
Eine durchzechte Nacht.
Wie ist er ins Bett gekommen?
Seine Hand tastet nach der Tussi neben ihm, aber da ist niemand.
Glück gehabt, ist wohl gegangen.
Charlie wankt aufs Klo, dabei muss er sich festhalten.
Aus dem Augenwinkel sieht er, wie sein Spiegelbild sich bewegt, einmal im Badezimmerspiegel, einmal im Spiegelschrank an der Wand. Bloß nicht hinschauen, ich sehe bestimmt furchtbar aus.
Stehen beim Pinkeln? Zu gefährlich – ich könnte umkippen.
Also hinsetzen. Jetzt mache ich’s mal so, wie die dummen Weiber es mir immer unterjubeln wollen. Wie sich das anfühlt ... als wäre man kein Mann ...
Die Kuh von gestern, das war eine Nacht ... was habe ich überhaupt mit ihr angestellt? Ich kann mich an nichts erinnern! Habe ich sie gevögelt? Konnte ich noch? Ich kann immer!
Wie sind wir eigentlich hierhergekommen? Bin ich etwa auf meiner Mühle gefahren, mit der Alten hintendrauf?
Er wankt zum Fenster.
Obercool, die Harley steht unten, brav angekettet an der Kellertreppe.
Er taumelt zurück zum Bett, die Beine wollen nicht richtig, das Kreuz tut weh.
Dann merkt er, dass er noch tröpfelt. Morgendliche Inkontinenz – Scheiße.
Da liegt ein Zettel auf dem Kopfkissen, kann man nicht lesen, die Schrift ist so verschwommen. Er muss die Augen ganz schön zusammenkneifen: „Ich habe mir überlegt, dass wir uns nicht mehr sehen sollten. Du weißt schon, der Altersunterschied. “
Verstehe ich nicht. Älter als fünfundzwanzig kann sie doch wohl nicht gewesen sein. Egal. Erst noch mal ne Runde pennen.
Lange Zeit später nimmt er noch mal den Zettel zur Hand, kneift die Augen zusammen. Was ist mit meinen Augen? Seine Hände zittern. Die Hände, die Hände. Er schaut genauer auf seine Hände. Ganz schön faltig, meine Hände. Und diese Flecken, braune Flecken über und über.
Irgendwas ist hier ganz und gar nicht in Ordnung.
Zwischen den Beinen juckt es ihn.
Er will kratzen – und –
da ist – nichts.
Er reißt sich den Schlafanzug vom Leib und schaut sich an. Sieht einen Frauenkörper.
Viel schlimmer, einen alten, verbrauchten Frauenkörper.
Zwischen den Beinen: gähnende Leere, umrandet von weißen Haaren. Der absolute Horror.
Er will aus dem Bett springen, kann nicht, denn er ist schwer und steif und gebeugt und behindert.
Er schleppt sich ins Badezimmer und jetzt schaut er endlich in den Spiegel und sieht ein steinaltes Gesicht voller Falten, umrahmt von zotteligen weißen Haaren.
Ein schrecklicher Traum. Am besten noch mal hinlegen. Wenn ich wieder aufwache, ist alles okay.
Aber nichts ist okay. Charlie hat sich in eine uralte Frau verwandelt.
Aber so was gibt’s ja doch nicht, oder? Er hat eine Idee: „Da hat mir einer eine Wahnsinnsdroge untergejubelt, gestern in der Disco. Da war so ein Arsch mit teuren kleinen Pillen.“
Also abwarten. Wieder einpennen. Aber er kann nicht mehr pennen. Die Gedanken in seinem Kopf drehen sich im Schleudergang.
Vielleicht um endlich aufzuwachen aus diesem schrecklichen Alptraum, kneift er sich, erwischt die Brust. Das tut weh. Gibt es eine größere Peinlichkeit, als einer Sechzigjährigen an die Titten zu greifen?
Es muss was geschehen. Aber was?
Charlie zwängt sich in seine Motorradkluft.
Der Busen behindert ihn. Dieser hässliche, obszöne Busen!
Er bemerkt den Geruch, der seiner Haut entströmt: saure, verfaulte Gurken mit dem Haut-gout von Kreuzkümmel und gammeligem Schwarzwälder Schinken.
Ich muss jemanden finden, der mir hilft.
Auf seinem Motorrad fährt er zum Krankenhaus. Wenigstens das Fahren fühlt sich einigermaßen normal an. Der Wind zaust seine unterm Helm hervorquellenden, ungekämmten Haare.
Der Doktor schaut ihn mit großen Augen an.
„Wobei soll ich Ihnen helfen?“
„Ich muss von meinem Trip runter.“
„Welcher Trip?“
„Der Trip, der Trip!“
Charlie will aufspringen und auf den Doktor losgehen. Sein ganzer Körper schmerzt, er ist müde, die Hüften tun weh, die Knöchel, die Knie.
„Man hat mir eine Droge verpasst. Ich fühle mich wie eine sechzigjährige Frau.“
„Dann geht es Ihnen doch wunderbar, denn nach meiner Schätzung müssen Sie hoch in den Siebzigern sein.“
„Ich bin zwanzig, Mann! Zwanzig!“
Des Doktors Blick irrlichtert über seinen Schreibtisch. Er ergreift einen Jadeelefanten und dreht ihn zwei- dreimal in der Hand. Dann schaut er Charlie an: „Sie sehen aber aus wie fünfundsiebzig oder gar achtzig. Was weiß ich? Haben Sie Ihren Personalausweis dabei?“
Charlie kann nicht mehr sprechen. Er schaut den Arzt nur mit weit aufgerissenen Augen an.
Der steht auf, holt ein Lämpchen aus der Brusttasche, zieht die Lider auseinander, leuchtet Charlie in die Augen.
„Greisenbogen. Normal in Ihrem Alter.“
Er hört Charlie ab, klopft auf seinen Rücken, prüft die Reflexe. Charlie lässt alles über sich ergehen.
Der Arzt murmelt wie zu sich selbst: „Blutdruck leicht erhöht – Arthrose in den Knien. Reflexe altersbedingt reduziert, möglicherweise beginnende Polyarthritis. Aber Sie werden wahrscheinlich an Altersschwäche sterben, bevor sich die so verschlimmert, dass Sie damit Probleme kriegen. Ich könnte Ihnen Cortison verschreiben. Haben Sie Schmerzen in den Händen?“
Charlie schreckt hoch. Schaut den Arzt mit irrem Blick an.
Der setzt sich wieder hinter seinen Schreibtisch. „Ich glaube ich kann nichts weiter für Sie tun. Ihr körperlicher Zustand ist exzellent für Ihre Jahre. Wir können natürlich noch den einen oder anderen Test machen ...“
Nein! Ich will nach Hause. Charlie türmt.
Schmeißt wie in Trance sein Motorrad an. Beinahe baut er einen Unfall.
Zu Hause sitzt er auf dem Bett, starrt ins Leere. Der Schlüssel dreht sich im Schloss.
Charlies Großneffe kommt nach Hause.
„Tante Charlie, was machst Du denn hier?
Ist es wieder passiert?
Und den Zettel hast du auch gelesen! Weißt du wer den geschrieben hat? Meine ehemalige Lehrerin. Sie meint, weil sie achtundreißig ist und ich zwanzig, dürfen wir es nicht mehr tun.
Ich bin ganz schön sauer.“
Er geht zum Telefon: „Hallo? Ja, meine Großtante ist hier. Sie hat es wieder getan. Je oller je doller. Hat meine Klamotten an, ist mit meinem Motorrad gefahren etcetera, die übliche Geschichte. Nein, den will ich ihr nicht wegnehmen, ich bin ja im Grunde froh, wenn ich weiß, da ist jemand, der noch einen Schlüssel hat.
Ich bringe sie. Komm, Tante Charlie. Wir fahren ins Heim.“
Tante Charlie steht auf, strafft sich. Hat sich ein Gel geschnappt und streicht es sich mit festem Griff in die Haare. Im Profil, gegen das helle Licht des Fensters, könnte man sie einen Moment lang wirklich für zwanzig halten.
„Das Zeug ist gut, würdest du mir das mal leihen?“, fragt sie.
„Klar Tante.“