Sie lag in ihrem Bett. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre braunen Haare säumten das junge Gesicht; die Strähnen waren vom unruhigen Schlaf seltsam verflochten. Ihr Atem ging langsam, es war kalt. Bilder hingen an den Wänden ihres Zimmers, die im Schein des still durch das Fenster scheinenden Mondes leuchteten. Es waren Bilder ihrer Familie. Mutter, Vater, ihre Geschwister.
Aber ein Bild war da, das leuchtete nicht. Das Bild eines Jungen. Die Glasscheibe war zersprungen. Es war das Bild, das auch in ihren Träumen war. Doch dort war es nicht starr, es bewegte sich. Er kam auf sie zu, nahm sie in seine starken Arme. Er berührte ihr Gesicht, voller Sanftheit. Sie lag neben ihm, spürte seine Nähe, fühlte sich geborgen. Er flüsterte leise ihren Namen: „Anna.“ Sie waren zusammen, er gab ihr einen Grund zum Leben, zeigte ihr, was es heißt zu leben…
Das Licht ihrer Träume erlosch. Langsam öffneten sich ihre Augen. Ihre Hand kroch unter der Bettdecke hervor und tastete nach ihm. Doch das Bett neben ihr war leer. Er war fort. Er hatte sie verlassen. Ihr Herz schmerzte. Ein unerträglicher Stich fuhr durch ihren Körper. Sie zitterte und Tränen rollten an ihrer Wange hinab. In ihrem Traum war es wie Wirklichkeit gewesen. Doch es war schon lange keine Wirklichkeit mehr.
Sie stand auf, zog sich an. Sie konnte nicht mehr schlafen, musste raus, konnte das Zimmer nicht mehr sehen, in dem sie etliche Stunden mit ihm verbracht hatte. Schöne Stunden. Es schmerzte sie ungeheuerlich, sich daran zu erinnern. Ihre Brust fühlte sich an, als drückten mächtige Hände sie zusammen.
Sie ging hinaus, ging die Straße entlang, mit schnellen Schritten.
Sie saß in der Küche. Um sie herum war alles dunkel. Sie saß auf einem Stuhl und blickte zum Fenster hinaus, auf die Lichter der nächtlichen Stadt. Ihre glasigen Augen blickten verloren aus dem mit den tiefen Furchen der Zeit gebrandmarkten Gesicht. Der Mond ließ ihr weißes Haar schimmern, das sich widerwillig der Schwerkraft unterwarf.
Sie war müde, schaffte es jedoch nicht zu schlafen. Sie sah den Sternenhimmel vor sich, das muntere Funkeln, und ihre Augen wurden schwer, ihre Lider fielen zu.
Sie sah sein Bild vor sich. Sein Profil im Schein des Mondes. Sie sah ihn, wie er neben ihr saß. Kräftige Falten erstreckten sich über sein Gesicht. Aber sie sah immer noch den jungen Mann hinter dieser alten, sonnengebrannten Haut. Sie blickte in seine Augen und sah die Augen eines alten Pferdes, das gerne noch einmal über die Wiesen jagen wollte, würden sich seine Muskeln ihrer alten Stärke erinnern.
Sie öffnete ihre Augen. Ein dumpfer Schmerz war in ihrer Brust entstanden. Wasser sammelte sich in ihren Augen und rann die Wangen hinab. Es tropfte auf den Boden.
Sie fühlte die Berührung seiner rauen Hände, die sanfte Verbindung seiner Fingerspitzen mit ihrer Haut. Sie hörte seine Stimme durch die Räume ihrer Wohnung rufen, sie war in den Wänden: „Elise.“ Sie war so sanft, so lieb, so wundervoll.
Und er war weg.
Es schien ihr, als würde die Luft in der Küche an vielen Graden verlieren. Sie fröstelte und zog die Enden ihrer Jacke näher an ihren Körper. Er war weg. Er konnte sie nicht mehr wärmen, nie wieder. Laute, unberechenbare Schluchzer drangen aus ihrer Kehle.
Ihr war, als würde ihre Welt abermals zusammenbrechen, als würden diese beharrlichen Säulen, die sie noch vor nicht all zu langer Zeit errichtet hatte, durch die Berührung einer einzelnen Feder zusammenkrachen.
Sie konnte nicht länger dort auf ihrem Stuhl sitzen. Sie musste aufstehen. Langsam wickelte sie sich in ihre Jacke und verließ mühevoll das Haus.
Sie ging die Straße entlang, mit schleppenden Schritten.
Sie liefen durch die Stadt, am Horizont erkannte man die leichten Vorzeichen des herannahenden Tages. Sie liefen, den Blick auf ihre Füße gerichtet. Sie versuchten ihre Gedanken zu verdrängen und suchten die Stille. Sie waren zerstört, versuchten sich wieder zu fassen, Mut zu finden, eine Stütze zu suchen. Sie folgten der Straße, die um die Ecke führte.
Der geteerte Gehweg wurde von Pflastersteinen abgelöst. Die Straßenlaternen erhellten ein Stück des Weges, dazwischen lag Dunkelheit.
Sie erinnerte sich an einen Spaziergang, den sie mit ihm gemacht hatte. Es war in einer sternenklaren Nacht gewesen, einer Nacht wie dieser. Sie hörte wieder seine Stimme: „Anna.“
Sie spürte, wie abermals die Tränen in ihr aufstiegen und atmete tief ein und aus um sie zu unterdrücken. Sie lief mit schnellem Schritt.
Da vernahmen ihre Ohren ein Geräusch. Eine Stimme. Eine Stimme schallte von oben herab. Sie blieb stehen und lauschte…
Es war ein Gedicht.
Sie bemerkte, wie die Jahre ihre Spuren an ihr hinterlassen hatten. Mit jedem Schritt fiel es ihr schwerer, den nächsten Schritt zu setzen, sie spürte jede Unebenheit in den Pflastersteinen. Es kostete sie Überwindung, noch weiter zu gehen, denn sie musste später denselben Weg nochmals bewältigen. Sie bezweifelte, dass ihre Kraft dazu reichen würde.
Aber sie wollte nicht wieder in ihre Wohnung zurück. Sie erinnerte sich an seine Stimme in den Wänden: „Elise.“ Ihre Brust zog sich zusammen.
Doch dann war da noch eine andere Stimme. Sie war über ihr. Sie blieb stehen und lauschte dieser Stimme…
Ein Gedicht.
Sie wandten den Blick nach oben, wollten die Quelle der Stimme erkennen. In einem Fenster im dritten Stock brannte sanftes Licht und jemand rezitierte ein Gedicht:
Es war eine Liebe,
eine ewige Liebe,
du warst mein Einzig,
mein Wahres.
Ich zerbreche, wenn ich nun,
an dich denke,
wenn ich noch heute,
dir Liebe schenke.
Ich zerbreche, zergehe,
verwandle mich,
verstehe nicht,
warum du mich verliesest.
Sie waren betroffen, erkannten sich in diesem Gedicht.
Sie wanden nachdenklich den Blick von dem Fenster, gleichzeitig, und sahen eine Frau, nur wenig von sich entfernt stehen. Sie blickten sich zögernd an, wussten nicht, was sie erwartete.
Sie musterten ihre Gesichter und plötzlich war ihnen, als sähen sie in einen Spiegel. Als sähen sie sich selbst.
Sie verharrten einen Augenblick, lächelten sich an, aus ihren traurigen Antlitzen. Dann trat die Jüngere von ihnen auf die andere zu, griff ihr unter den Arm, um sie zu stützen und ihr das Gehen zu erleichtern.
Sie gingen miteinander weiter.
Die Jüngere fing an zu reden, mit leiser Stimme und die andere fiel mit ein:
Es war eine Liebe,
eine ewige Liebe,
du warst mein Einzig,
mein Wahres.
Ich zerbreche, wenn ich nun,
an dich denke,
wenn ich noch heute,
dir Liebe schenke.
Ich zerbreche, zergehe,
verwandle mich,
verstehe nicht,
warum du mich verliesest.