Das konnte doch nicht wahr sein! Enttäuscht ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich habe schon die zehnte Absage bekommen. In der neunten Klasse mussten wir nämlich alle ein Praktikum absolvieren… Ich war schon seit zwei Wochen auf der Suche nach einer Praktikumsstelle in einer Tierarztpraxis. Vergeblich, denn die Tierärzte schienen keine Praktikantinnen wie mich zu gebrauchen. Pff, wenn sie gewusst hätten, was für eine einmalige Chance sie mit mir verpassen! Mit einem Schwung ging plötzlich meine Zimmertür auf. Meine Tante spazierte grinsend rein. Sie teilte mir freudig mit: „Karla, ich habe für dich eine Praktikumsstelle gefunden!“
„Echt jetzt?“, ich musste sie wohl anglotzen als wäre sie eine Außerirdische, denn sie fing an herzhaft zu lachen.
„Eine Freundin von mir ist die Chefin vom Altersheim Lebgut und sie sucht Praktikanten, da habe ich ihr gleich dich vorgeschlagen. Sie erwartet dich am Montag“, teilte meine Tante mir zufrieden mit.
„Ich soll ein Praktikum in einem Altersheim machen? Du hast sie wohl nicht mehr alle!“, fuhr ich sie an.
Ihre Miene verfinsterte sich, und sie verließ ohne ein Wort zu sagen, mit schweren Schritten mein Zimmer. Mir war natürlich klar, dass es keinen Plan B gab, also musste ich wohl oder übel zu diesem Gespräch hin…
Am Montag musste ich feststellen, dass die Chefin, Frau Hanse - eine blondhaarige Dame um die vierzig, echt nett war. Sie konnte mich überreden, dieses Praktikum dort doch zu machen. Am Dienstag war mein erster Arbeitstag, und auf dem Weg zum Altersheim wurde mir doch ganz schön mulmig zu Mute. Als ich das Gebäude betrat wurde ich sofort von einer recht gelangweilten Pflegerin empfangen: „Du bist sicherlich die Karla, ich heiße Lena, und ich soll dir alles hier zeigen und dir deine Aufgaben erklären.“
„Na super!“, flüsterte ich leise. Lena warf mir einen bösen Blick zu. Ich trottete ihr hinterher. Sie zeigte mir alles und erklärte mir meine Aufgaben: Die Mülltonne leeren, Tisch decken, die Senioren beschäftigen und Geschirr waschen. Eine Weile beobachtete ich einfach das Geschehen im Altersheim: Es ging sehr hektisch zu, die Pflegerinnen rannten aus einem Zimmer in das andere. Nach ungefähr einer Stunde machte ich mich auf den Weg, um den Tisch für das Mittagessen zu decken. Da kam eine Dame so um die achtzig angerannt. Sie trug nur eine gestreifte Strumpfhose sowie einen Herrenanzug. Sie schien völlig orientierungslos zu sein. Als sie mich sah, kam sie auf mich zu, umarmte mich und küsste mich auf die Wange. Ich bekam einen gewaltigen Schreck und schrie sie an: „Hören sie sofort auf!“ Die Dame ging tatsächlich weg, allerdings mit Tränen in den Augen.
Lena sagte ruhig: „Das ist Frau Haag, die Arme ist nicht mehr ganz richtig im Kopf, du darfst nicht so grob zu ihr sein!" Aber was hätte ich denn tun sollen, fragte ich mich. Später beim Essen wurde ich den Heimbewohnern vorgestellt. Ein Mann so um die Mitte sechzig verlangte die ganze Zeit nach Hähnchen mit Nutella. Unglaublich, wie viel Geduld die Pflegerinnen hatten! Besonders fiel mir aber eine alte Dame auf, die am anderen Ende des Tisches saß und ihr Essen kaum anrührte. Sie hatte graue Haare, braune traurige Augen, und sie wirkte sehr zierlich. Ihr Blick war ganz leer. Ich nahm mir vor, später bei der Freien Aktivitätszeit mit ihr zu reden. Diese Freie Aktivitätszeit war eine gute Sache… Manche Senioren gingen in einen Schach- oder Strickklub. Andere hatten Besuch, gingen spazieren, und einige blieben einfach im Gemeinschaftszimmer. Nach dem Essen sah ich die Dame auf dem Sofa einsam sitzen und Löcher in die Luft starren. Ich setzte mich zu ihr und fragte, ob ich ihr helfen kann.
„Mir kann keiner mehr helfen. Ich langweile mich hier zu Tode, meine Tochter hat mich einfach hierher gebracht, und sie selbst zog nach Kanada. Sie lässt nichts von sich hören. Ich bin ihr nicht wichtig, ich werde von niemanden geliebt. Ich fühle mich so… einsam! Früher häkelte ich gern aber...“, sie brach in Tränen aus. Ich fühlte mich überfordert mit der Situation, also sagte ich einfach: „Sie können mir Häkeln beibringen, und ich bringe ihnen dafür bei, wie man mit Computern umgeht. Hier stehen ja zwei rum, sie werden wie ich sehe von niemand benutzt.“
Sie schaute mir in die Augen, sie selbst hatte wunderschöne Augen. „Das würdest du tun? Ich heiße übrigens Frau Meyer“ sagte sie und lächelte. Ich traute meinen Augen kaum, sie lachte! Und ich lachte mit. In dieser einen Woche hat sie mir tatsächlich Häkeln beibringen können, und ich hab für sie eine eigene E-Mail Adresse erstellt. Frau Meyer konnte schon selbstständig eine E-Mail schreiben. Sie wurde nach und nach fröhlicher und ich mit ihr auch. An meinem letzten Tag im Altersheim schenkte ich ihr ein Handy. Es war ein völlig unkompliziertes Handy, so dass Frau Meyer damit gut umgehen konnte. Danach schrieben wir uns regelmäßig SMS-e.
Ja, ich habe in Frau Meyer eine Freundin gefunden, vielleicht sogar eine beste Freundin… Wir waren so unterschiedlich, und genau deswegen zogen wir uns wie magnetisch an. Wir konnten so unglaublich viel voneinander lernen.
Mein Praktikum ist jetzt acht ganze Jahre her, und ich schreibe Frau Meyer keine SMS-e mehr. Ich sehe sie nämlich jeden Tag, denn ich bin Altenpflegerin und arbeite im Altersheim „Lebgut“. Frau Meyer ist schon fünfundsiebzig Jahre alt aber noch recht fit. Wie auch immer - eine Sache weiß ich ganz genau: Diese Freundschaft zwischen uns beiden wird für Ewig und Immer halten.