Eine Kurzgeschichte von Franziska für meine Oma, die in einem kleinen Dorf in der Eifel aufwuchs.
Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60
Wütend schaltet Antonia ihren iPod an. Wie können ihre Eltern ihr das antun? Ist ihnen eigentlich klar, dass sie gerade Antonias Leben zerstören?
Weg von der Clique, Tim und Köln. Der totale Horror. Und das nur für Papas Job und Landleben! Landleben?! Wie sich das schon anhört. Und überhaupt, wo sind sie hier eigentlich?
Das Auto poltert über einen holprigen Weg und weit und breit kein Haus zu sehen.
Antonias Eltern haben es aufgegeben, ihrer 13-jährigen Tochter das neue Leben in der Eifel schön zu reden, es bringt nichts. Sie stellt sich quer.
Nach 2 Stunden ist ein kleines Dorf zu sehen. Büscheich. Dort befindet sich das neue Haus der Familie Neubrück.
Als Antonia das Haus sieht, bestätigen sich ihre Befürchtungen. Ein altes, kleines Bauernhaus mit Scheune und Ställen.
Innen findet sie es noch schlimmer. Alles ist verstaubt und mitten im Wohnzimmer steht ein alter Kohleofen.
„Toni, dein Zimmer ist oben. Hier lang“, meint Sandra Neubrück aufmunternd.
Antonia greift sich ihre Tasche und klettert durch eine kleine Dachlucke nach oben. Es gibt ein Zimmer und den Dachboden. Das Mädchen öffnet die Tür zu ihrem Zimmer und blickt auf ein großes Bett, das unter einem kleinen Dachfenster steht. Es gibt einen Nachttisch, einen Kleiderschrank, eine riesige Holztruhe und einen Stuhl. Na super, das ist ja eine richtige Luxussuite, denkt Toni genervt, stellt ihre Tasche auf den Boden und wirft sich aufs Bett. Tränen laufen ihr über die Wangen. Verzweifelt weint sie sich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen wacht Antonia früh auf. Sie geht nach unten und stolpert fast über einen der vielen Umzugskartons.
Antonia spürt, wie die Wut langsam wieder in ihr aufsteigt und stürmt nach draußen.
Sie streift durch die Straßen Büscheichs, braucht aber nicht lange, da der Ort so klein ist. Überall stehen Bauernhäuser, auf den Wiesen grasen Kühe und über die Straße flattern Hühner. Idyllisches Landleben eben, doch Toni findet es schrecklich und kann die Tränen nur schwer zurückhalten. Traurig geht sie zum Haus zurück.
Nach dem Frühstück fahren die Eltern einkaufen und Antonia ist allein.
Schlecht gelaunt macht sie einen Streifzug durch das Haus. Im Garten blickt sie auf eine verwilderte Wiese, auf der am Rand ein Plumpsklo steht. „Ist das eklig“, stößt Toni aus und macht kehrt.
Über die wackelige Holztreppe gelangt sie wieder nach oben und kommt an der Tür zum Dachboden vorbei. Kurz hält sie inne und öffnet sie. Ein muffiger Geruch steigt ihr entgegen. Eine weitere kleine Treppe führt unters Dach. Es ist stockfinster. Mit einer Taschenlampe bewaffnet klettert sie hoch. Oben wirft der Lichtkegel geheimnisvolle Schatten auf Truhen, Kleidersäcke, Koffer und verstaubte Möbel.
Antonia fängt an, in den Sachen zu wühlen und öffnet eine riesige Kiste, in der sich alte Bücher befinden. Ein altes, mit Blumen bemaltes Notizbuch erweckt ihre Aufmerksamkeit. Es ist ein Tagebuch.
„04. April 1956: Heute war es wieder so weit. Opa kam vorbei, um sich von Papa die Haare schneiden zu lassen. Als er kam lauerte ich schon hinter der Tür und wartete, dass er seine Jacke an den Haken hing und sagte: „In da Teeiisch is wat drin von da Oma.“ Neugierig griff ich in die Jackentasche. Dieses Mal waren keine Äpfel, Nüsse oder Bonbons drin, sonder etwas viel köstlicheres. Ein Hefeweck. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Womit hatte ich das nur verdient? Natürlich verzehrte ich ihn gleich mit Genuss. Himmlisch.“
Antonia blättert weiter.
„20. April 1956: Es ist so schade, dass Gretels Eltern eine Wirtschaft haben. Ich kann sie nie besuchen, Papa sagt in einer Wirtschaft habe ich nichts zu suchen. Deshalb müssen wir uns immer im Wald oder bei mir Zuhause treffen.
Heute war ich mit Gretel, Inge und Inges kleiner Schwester am Bach. Wir haben Schiffchen gebaut und sie schwimmen gelassen, dabei fiel mir Flo, mein Stoffhund ins Wasser. Jetzt ist er ganz nass. So was blödes!“
„01. Juni 1956: Ich bin so glücklich. Heute war der Tag des Ausfluges. Ich habe so lange auf ihn gewartet und jetzt endlich. Ganz früh morgens fuhr ich mit meiner Schulklasse und Fräulein Meier mit dem Bus nach Trier. Die Stadt ist riesig. Wir besichtigten die Mariensäule und waren im wunderschönen Dom. Das war so atemberaubend. Aber dann kam das Beste: Wir durften zu dritt durch die Stadt bummeln. Ich aß zum ersten Mal in meinem Leben eine Rostwurst und trank richtige Limonade. Ist das nicht toll? Es schmeckte so lecker. Ich war in einem großen Buchladen. Alle hätte ich kaufen können. Eines hat mir besonders gefallen. Der kleine Prinz. Ich möchte viel sparen, um es mir zu kaufen. Diesen Tag werde ich nie vergessen.“
Am Abend sitzt Antonia wieder auf dem Dachboden und liest.
„09. Juni 1956: Puh, bin ich so müde! Ich glaube ich schlafe gleich beim Schreiben ein. Wir haben Heu gemacht. Zusammen mit Inges und Lenis Eltern. Es war spaßig. Meine Freundinnen und ich haben das Heu eingetrampelt und eine Heuschlacht veranstaltet. Ich habe immer noch Heu in den Haaren, aber das ist nicht schlimm. Ich habe wundervolle Freunde.“
Das Klingeln des Weckers reißt Toni aus dem Schlaf. Sie muss in die Schule.
Das wird einfach nur schrecklich, denkt Antonia wehleidig. Aber es führt kein Weg daran vorbei.
Sie findet ihre Klasse furchtbar, verhält sich arrogant und eingebildet. Ihre Mitschüler tragen keine Markenkleidung und die meisten sind noch nicht mal bei Facebook angemeldet. Die totalen Landeier.
Nachmittags flüchtet sie sich wieder zum Tagebuch.
„12. Juni 1956: Zeugnistag. Ich habe Oma mein Zeugnis als erstes gezeigt und sie war sehr stolz. Als ich dann Zuhause war und es meinen Eltern zeigte, lag da plötzlich Geld beim Zeugnis, für jede eins 20 Pfennig von Oma. Ist das nicht lieb? Ich komme dem Buch schon näher.“
„23. Juni 1956: Mama hatte einen Termin beim Arzt und ich musste zuhause bleiben um Fee, unser Kalb an den Bauern zu verkaufen. Eigentlich hätte er es schon letzte Woche abholen soll. Und jetzt verlangen wir 5 Mark mehr von ihm, für eine Woche länger füttern. Es fällt mir immer so schwer, die Kälbchen zu verkaufen. Vor allem Fee habe ich so lieb. Bei Verkauf weinte ich. Aber das Gute ist, die 5 Mark darf ich behalten. Wieder ein Schritt weiter.“
Bis spät in die Nacht liest das Mädchen und die Eltern fragen sich schon, was sie so lange treibt und wo sie ist. Insgeheim hoffen sie, Antonia hätte im Dorf Freunde gefunden und sei bei denen.
Es folgen Tage, an denen Toni wenig Zeit zum Lesen hat. Mit dem Haus und der Schule hat sie viel zu tun. Zu ihren Eltern ist sie immer noch zickig. Doch sie spürt, dass ihre Wut langsam weniger wird und sie das Dorf zu mögen beginnt.
Eines Tages zieht es sie nach draußen. Sie schnappt sich das Tagebuch und streift durch Wälder und Wiesen. Die Natur ist wirklich wunderschön, denkt sie, muss lächeln und fängt an zu lesen. Inzwischen ist sie bei Oktober angelangt.
„ 24. Okt. 1956: Ich bin so kaputt. Mama ist krank. Herr Bauer hat ihr Bettruhe verschrieben und ich muss ihr helfen. Morgens vor Schulbeginn melke ich die Kühe. Es ist schrecklich, weil ich es nicht kann und viel Milch verloren geht.
Ich pflege Mama, koche Papa etwas. Das klappt gut und ich bin schnell fertig. Das Putzen nimmt mehr Zeit in Anspruch. Und dann auch noch die Schule. Ich fahre immer noch mit dem Fahrrad anstatt mit dem Bus, um Geld fürs Buch zu sparen. Das alles macht mich so müde. Aber ich halte durch. Meine Eltern brauchen mich.“
Antonia klappte das Notizbuch zu. Sie denkt: Wow, was für ein starkes Mädchen. Sie fährt 2 Wochen lang mit dem Fahrrad zur Schule, um sich ein Buch kaufen zu können? Wie bewundernswert. Und sie hilft ihren Eltern wo sie nur kann.
Von dem Moment an verhält sich die 13-jährige anders. Sie ist wieder nett zu ihrer Familie, hilft ihnen mit dem Haus und auch in der Schule ist sie offener. Ja, regelrecht fröhlich und nicht überheblich. Und sie merkt, die anderen sind gar nicht so blöd. Mia, das Mädchen mit den lustigen Sommersprossen ist sogar richtig nett. Vielleicht kann Antonia sie ja mal zu sich nach Hause einladen?
Und dann ist die Zeit gekommen. Antonia ist beim letzten Eintrag des Tagebuches von Barbara Weber angekommen. Sie weiß inzwischen, wer das Kind ist, das die alltäglichen Dinge des Lebens von früher so toll geschildert hat. Das Mädchen, das Antonia gezeigt hat, was wirklich wichtig im Leben ist. Nicht etwa Schminke und Klamotten, sondern Dinge, die man sich mit keinem Geld der Welt kaufen kann.
Menschen die einen lieben. Eine Familie, die immer hinter einem steht. Echte Freunde.
Genau das hat Toni jetzt. Und sie will es nie mehr hergeben.
„05. Nov. 1956: Ich könnte weinen vor Glück! Ich habe es geschafft. Ich habe endlich genug Geld gespart, um mir den kleinen Prinzen zu kaufen. 5 mühsame Monate, in denen ich jeden Pfennig gespart habe. Aber es war die Mühe wert.
Als ich heute mit meinem Sparschwein in die kleine Buchhandlung ging, war ich mächtig stolz und so froh. Ich bezahlte und die Verkäuferin gab mir das Buch. Meine Hände zitterten vor Ehrfurcht. Ich war so unfassbar glücklich, das Buch endlich in der Hand halten zu können. Ich werde es wie einen Goldschatz hüten. Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden!“
Als Antonia das Buch zuklappt, hat sie Tränen in den Augen, so gerührt ist sie von Barbara.
Und sie weiß ganz genau, sie muss den kleinen Prinzen unbedingt lesen.