Dauerbaustelle

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Die Dauerbaustelle an der Einfahrt von der A 10 auf die Avus würde ihn aufhalten. Sie hatte es heute Morgen im Radio gehört. Vielleicht hätte sie ihn anrufen sollen. Wenn er über Steglitz abfährt, würde er es schneller schaffen.
Natürlich ist sie ungeduldig, möchte  ihn sehen, ihm mit der Hand durch die Haare fahren, sich in seinen Augen spiegeln, sein Begehren erkennen.
Nach dieser Nacht in der engen Bude des Studentenwohnheims in Hannover kann sie an nichts anderes mehr denken. 11 ½ , so heißt die Hauszeitung, an der er mitarbeitet. 11 ½  Quadratmeter, der zugestandene Lebensraum eines Erstsemesters. Aber was in dieser vermeintlichen Enge Platz hat! Tür zu und die anderen, die Zweifel, das ewige „Ja, aber...“ bleiben draußen. Auch der komische Blick der großen Blonden, die ihr auf dem Weg zum Bad begegnet ist, muss sie nicht wirklich kümmern. Die Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, die er als Fan klassischer Musik dazu aufgelegt hat, hat sie sich zu Hause gleich gekauft. Die Saphirnadel auf der Vinylscheibe hat ihr seine Berührungen in die Haut graviert. Ja, das war eine Neue Welt, sie konnte tun, was sie wollte, wohnte nicht mehr zu Hause, war mit gerade 20 Jahren dabei, sich die Welt zu erobern. Und es war alles so einfach gewesen! Er hat ihr gefallen, sie hat ihn nach der Geburtstagsfeier gefragt, ob sie ihn nach Hause bringen dürfe. Dann ist sie über Nacht geblieben.
Nein, sie wolle jetzt noch nicht bestellen. Sie erwarte noch jemanden.
„Bin am Wochenende in Berlin, sehe Dich am Freitag ca. 19.00 Uhr in dem Café, von dem Du erzählt hast!“ Der Brief, in dem er sein Kommen ankündigt, knistert in der Brusttasche ihres Blazers. Gerne hätte sie dieses Etuikleid angezogen, in dem sie ihm auf der Fete von Renate so gut gefallen hat. Aber das, bodenlanger gelber Jersey mit blauem Blumenmuster, wäre modisch völlig overdressed hier in Neukölln und, ärmellos, für diese herbstliche Jahreszeit auch ungeeignet.
Ein Blick auf die Uhr, 19.30 Uhr, es wird allmählich kühl hier auf dem Hof, vielleicht sollte sie reingehen. Aber dann kann sie den Zugang von der Straße nicht mehr beobachten. Eventuell erkennt er sie ja nicht gleich, wenn er kommt, muss sie im schummrigen Innenraum erst suchen. Nein, sie wird hier aushalten.
Gut, sie sucht sich schon einmal etwas aus, vom Tagesangebot, wie immer mit Kreide an die Tafel geschrieben. Auf die Entfernung sieht sie jetzt wieder gut, wenn sie den Kopf mit der neuen Gleitsichtbrille in die richtige Haltung bringt. Nichts mit Salat oder Petersilie, das klebt immer so an den Zahnkronen. Ein schrecklicher Gedanke, wenn der ersehnte Begrüßungskuss durch Grünzeug unter der Brücke beeinträchtigt würde.
Früher war die Bedienung hier übrigens professioneller, diese junge Türkin jetzt versucht, fehlende Souveränität durch anbiedernde Penetranz auszugleichen. Der junge Mann, der sonst draußen bedient, hat sie Freitagabends schon wie eine alte Bekannte begrüßt und nicht zur Aufgabe der Bestellung gedrängt.
Die Kälte kriecht allmählich von unten hoch. Die Blase drückt. Im Toilettenvorraum ist ein großflächiger Spiel, in dem sie ihr Äußeres überprüfen kann. Sie drapiert den grünlichen Seidenschal neu, eine gute Möglichkeit, die ersten Schildkrötenfalten am Hals zu verdecken.
Da, sie schaut erneut auf den Brief, ca. 19.00 Uhr, da steht es. Sie hat sich nicht geirrt.
Jetzt hat er sich bereits 1 ½ Stunden verspätet! Alles nur wegen dieser Baustelle!
Vorsichtig schiebt sie das Papier wieder in den Umschlag. Die Faltkanten werden allmählich brüchig. Sie trägt ihn immer bei sich, seit sie ihn vor 40 Jahren erhalten hat.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

*Einsendeschluss!* Nun werden die Texte gezählt, gesichtet, sortiert, gestapelt und veröffentlicht. Und während die Jury liest, könnt ihr den Publikumspreis per Voting ermitteln!

*Bitte lesen!!!*: Teilnahmebedingungen

Die Jury

Schöne Preise für die schönsten Einsendungen

Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: Elisabeth, 60 Jahre