Ich lebe in einer Großfamilie mit undenkbar komplizierten Verhältnissen. Familientreffen sind meist die Hölle, obwohl man bei einer Familie solcher Größe auch das eine oder andere fürs Leben lernen kann. Und trotz vieler Verwandten, die ich nicht gerne mag, gibt es einen bestimmten Kreis, den ich in mein Herz geschlossen habe, zu dem interessanterweise viele alte Menschen gehören. Viele Teenager sehen alte Leute als fremd, unverständlich, eigen und sogar egoistisch an, doch das ist nur die Schale des wirklichen Charakters, der in ihnen schlummert. Ich will sie als einfühlsam, erfahren, weise und hilfsbereit beschreiben. Man sagt immer, der Wille und das Handeln macht deine Persönlichkeit aus und genauso prägen Erfahrungen den Charakter, ob man sie nun erleben wollte oder nicht. So haben griesgrämige, forsche, strenge Pensionisten vielleicht ihre Gründe warum sie so sind wie sie sind, auch wenn das einem ziemlich auf die Nerven gehen kann. Ich kenne beide Varianten in meiner Familie und auf der Spitze der herzlichen Seite steht meine „Ali Omi“, so wie ich sie nenne. Alicia mit dem ganzen Namen, wie der Rest zu ihr sagt. Was mich an ihr bedrückt ist, dass sie neuestens nicht mehr für mich da sein kann, weil sie nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Jeden Tag dachte ich an sie und heulte mich in den Schlaf. Ich sah das Foto am Nachtisch an und fragte mich, wie sie mich allein lassen konnte. Auf dem Bild trug sie ihr grünes Lieblingskleid mit den bunten, selbst aufgestickten Blumen ihrer Mutter. Wir tanzten gerade Tango oder versuchten es zumindest. Wir beide lächelten frech und aufgewühlt in die Kamera. Ich fing schon wieder an zu heulen während ich das Licht ausschaltete, als mein Blick auf meinen Schutzengel mit der kleinen Karte fiel, auf der stand „Ich liebe dich, ich wache immer über dir. Deine Ali Omi“ Da hatte ich plötzlich einen Idee, die ich gleich am nächsten Morgen verwirklichen wollte.
Es war erst acht Uhr und ich saß schon am Computer. Fieberhaft versuchte ich mich an mein Passwort für meinen Emailaccount zu erinnern. „Ha klar, völlig verrückt war mein Passwort“ Das hatte ich geändert als ich mal wieder lange mit meiner Omi gemailt hatte und sie mir erklärte, sie wolle Bungee Jumping ausprobieren. Schnell loggte ich mich ein und klickte auf Email schreiben. Für die Empfängeradresse gab ich Omi@himmel.com ein und fing an zu schreiben „ Liebe Ali Omi! Für mich warst du immer mein Schutzengel in der Familie und du fehlst mir jetzt schon unglaublich. Ich hoffe dir geht es gut an dem Ort, der dein Himmel sein soll. Ich vermisse dein herzliches Lachen und deine liebevollen Umarmungen. Ich kann mich noch erinnern, wie ich dich als sehr kleines Mädchen überreden konnte mit mir zu rapen. Das war ein großer Spaß in die Schar offener Münder zu schauen als wir das Wohnzimmer gerockt haben, als wäre es eine Konzertbühne. Oder kannst du dich noch an das Erlebnis erinnern als du das erste Mal mit mir gemeinsam reiten warst und mein Pferd ausgebüchst ist? Du konntest einfach nicht still stehen und bist mir, ohne einen Schimmer zu haben wie es funktioniert, nachgaloppiert. Am Ende musste ich dir nachjagen und nicht umgekehrt. Ich ritt schon länger wie du weißt und rettete dich, trotz meiner vielen Lachanfälle.“ Bei dem Gedanken an den Tag stiegen mir sofort die Tränen in die Augen. Nie wieder würde ich solche Erlebnisse mit ihr machen können. Schnell endete ich die Email mit „Ich liebe dich, deine Enkelin“ , speicherte die Email ab und loggte mich aus. Und obwohl mir noch die Tränen wie ein Wasserfall aus den Augen rannen, fühlte ich mich auf eine gewisse Art entlastet. Ich ließ mich in mein Bett fallen und schlief sogleich wieder ein.
Als ich wieder aufwachte war es schon 11 Uhr und meine Mutter betrachtete mich mit dem „Bist du etwa krank“ Blick als ich erst mal zum Bad schlürfte. Zu Mittag aß ich gemütlich mein Frühstück und verbrachte den restlichen Tag mit Lesen. Doch meine Omi spukte mir trotzdem den ganzen Tag durch den Hinterkopf. In ein paar Tagen würde die Beerdigung stattfinden und ich hatte mir fix vorgenommen eine Rede zu halten. Leider hielt sich meine Kreativität dazu in Grenzen. Als ich es nicht mehr aushalten konnte in die Leere zu starren, nahm ich den Computer in die Hand und fing an zu schreiben. Auch wenn da nun Buchstaben vor meinen Augen standen, ergaben sie für mich nur wenig Sinn. „Und wie kommst du voran? Lass mich mal sehen, vielleicht kann ich dir helfen. Schließlich ist die Beerdigung schon Morgen Nachmittag!“ Meine Mutter versuchte argwöhnisch sich meinen Laptop zu krallen, den ich aber reflexartig schloss und den Händen meiner Mutter entzog. Sie verstand einfach nicht, wie wichtig und persönlich das für mich war. „Mum! Das ist keine Hausübung, wobei die Eltern einem helfen sollen. Und auch keine Abschlussrede, wobei die Eltern zwar nicht helfen sollen, aber die Jugendlichen den einen oder anderen Tipp brauchen. Mama ich möchte das ganz allein schreiben!“ Ich hatte mich so klar ausgedrückt wie ich konnte, so wie es mir meine Omi beigebracht hatte. Mit einer etwas beleidigten Miene zog sie ab, aber die würde sowieso nicht lange anhalten. Mir war klar, dass sich heute keine Rede mehr schreiben ließe, nahm mir aber fest vor morgen eine letzte Email für meine Omi zu verfassen.“ Vielleicht entsteht dabei ja meine Rede.“ Mit dem Gedanken schlief ich diesen Abend ein.
Und schon wieder saß ich in aller Herr Gott’s Früh vor dem Computer und starrte wie am Vortag auf das Leerzeichen ohne auch nur ein Wort zu schreiben. Plötzlich begriff ich mein Problem. Ich versuchte die ganze Zeit, eine Rede zu schreiben, die die Zuhörer ansprach, aber in Wirklichkeit ging es nur darum, dass sie mir gefiel. Ich wollte mich von ihr verabschieden mithilfe der Rede und nichts anderes. Auf einmal fiel es mir auch viel leichter etwas zu schreiben. Mit „Liebe Omi!“ begann ich die Email. Das ist wahrscheinlich der traurigste Tag in meinem Leben, aber ich möchte mich heute für all das bedanken, was du für mich getan hast und dir das Versprechen geben, weder dich noch deine Weisheit jemals zu vergessen. Von dir habe ich so viel gelernt, wie von sonst niemanden und all die Weisheit war für mich noch dazu so unglaublich nützlich, dass ich dir gar nicht genug dafür danken kann. Wie du mit dir in deinem atemberaubenden, blumigen Garten saßest und mir Geschichten von dir und anderen fantastischen Dingen erzählt hast, werde ich nie vergessen. Und auch nicht die unglaublichen Geschichten die wir zusammen erlebt haben. Ich vermisse deine Lebensfreude, die mir immer so viel Kraft gab. Trotzdem weiß ich, dass ich mit deinem vielen Ratschlägen schon fast eine Lebenskünstlerin bin. Du hasst mich geschätzt, geliebt und eine wundervolle Zeit mit mir verbracht und vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder, wenn ich selber von der Erde gehe. Und bist dahin werde ich dich in jeden liebenswerten Menschen wiedererkennen und dich in meinen Herzen immer bei mir tragen. BiBaBu Julia (Bis bald Bussi), wie du weißt.
Das Begräbnis kam schneller als gewollt, doch ich musste und wollte es hinter mich bringen. Der Pfarrer redete viel zu lange und noch dazu über lauter Dinge die ich nicht verstand. Nun kamen die Reden an die Reihe. Alicia war sehr beliebt und hatte Unmengen von netten Freunden. Ich war mir sicher, die Reden würden das Begräbnis retten. Ich als jüngste Rednerin sollte als erstes sprechen. Obwohl ich sonst immer nervös war vor Leuten zu reden, war das an dem Tag anders. Ich fühlte mich nur komisch leer und sehr traurig. Laut und deutlich und mit all meinem Herzblut, erzählte ich all das Geschriebene meiner Omi. Ich hatte es nicht bemerkt, aber mir kullerten die Tränen aus den Augen und tropften auf mein hexenartiges Kleid. Betäubt taumelte ich zu meiner Mutter, die mich in den Arm nahm und sagte: „Das war sehr berührend und wundervoll gesprochen, mein Schatz!“ Ich legte noch die Sonnenblume auf das Grab meiner Oma, hörte den anderen zu und schniefte mit dem Rest um die Wette. Endlich, nachdem zum Abschluss Omis fröhliche Lieblingsmusik gespielt wurde, besserte sich meine Stimmung und ich hatte das befreiende Gefühl, dass meine Worte wahr waren und ich sie einfach nur begreifen musste. Ich hatte meine Ali Omi nie verloren, denn sie würde immer in meinem Herzen bleiben.