Ich schlug die Augen auf. Es war heiß in meinem Zimmer und die Sonne knallte hinein. „Diese widerliche Sonne!“, murmelte ich verschlafen. Ich hatte heute wirklich keine Lust, mir einen abzuschwitzen. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich meiner Oma heute im Garten helfen musste. Bei der Hitze! Ich ging zum Kleiderschrank. Ich liebte meine Klamotten, aber heute fand ich alles schrecklich hässlich. Schließlich entdeckte ich unter knallengen Jeans, viel zu kurzen Hosen und tausenden grellen Oberteilen endlich den karierten Rock und die weite Bluse, Klamotten, die ich eigentlich schon längst hatte aussortieren wollen, die mir aber jetzt super gefielen. In der Küche fand ich nichts als widerlich süße Schokopops zum Frühstück. In der hintersten Ecke irgendeines hintersten Schranks entdeckte ich schließlich Kräutertee, den ich eigentlich hasse. Während ich ihn trank, blätterte ich in meinem Buch. Aber es war ziemlich langweilig. Ich sehnte mich nach einem alten, vergilbten Schinken, in dem keine Handys vorkamen. Es war ein seltsamer Morgen. Normalerweise würde ich mich über das schöne warme Wetter freuen, kurze Hosen und ein knalliges Top anziehen, zum Frühstück Schokopops futtern und mir dabei den neusten Beststeller reinziehen. Ich trank also meinen Tee und schwang mich (was man bei dem Rock eigentlich kaum sagen kann) auf mein Rad.
Als ich beim Garten meiner Oma ankam, hörte ich laute Musik und sah meine Oma in einem knappen grellen Kleid über die Karotten tanzen. Als sie mich sah, hörte sie auf und lächelte mir zu. „Müssen wir denn heute im Garten arbeiten? Wir können doch mal was zusammen unternehmen. Wie wäre es mit dem Freizeitpark? Komm, steig auf mein Motorrad und los geht’s!“, rief sie mir zu. Was? War das meine langweilige uralte Oma, die immer an mir rummeckerte? War sie es, die statt den Garten zu pflegen mit dem Motorrad in den Freizeitpark fahren wollte? Ich kenne niemanden, der langweilige Großmütter gegen coole ersetzt, leider. „Oma, du weißt genau, dass das nicht geht. Wir müssen die Gartenarbeit machen. Die Karotten müssen geerntet werden. Und zieh dir bitte was anderes an, ich will da nicht hingucken. So knappe Kleider sind nichts für so alte Frauen wie dich“, sagte ich. Aber hatte ich das wirklich gesagt? Ich, die, die immer Spaß und Action wollte? Hier war er doch, der Spaß. Meine Oma bot ihn mir an. Aber ich wollte im Moment wirklich nichts mehr, als im Garten zu schuften. Ja, ich machte mir wirklich SORGEN, dass der Kohl verkommen könnte! Doch jetzt war eh alles zu spät. Meine Oma hatte mir schon einen Helm aufgesetzt und mich auf das Motorrad gezogen. „Seit wann hast du ein Motorrad? Weißt du eigentlich, wie gefährlich das ist?“, zeterte ich. Langsam wurde mir schlecht. Wie war ich denn drauf! „Ja, ja, von einmal fahren stirbt doch keiner. Ich hab das Teil schon seit Jahren im Hühnerstall stehen. In meiner Jugend bin ich viel darauf gefahren. Das war so schön. Und heute fühle ich mich genau wie damals.“ Inzwischen fuhren wir viel zu schnell aus dem Dorf raus, auf die Autobahn. Ich schloss die Augen und betete zu Gott (was mich selbst erstaunte).
Ich glaube, Gott erhörte meine Gebete, denn wir kamen an, ohne ins Gras zu beißen.
Im Freizeitpark war es schrecklich. Meine Oma zog mich von einer Achterbahn zur nächsten. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte einmal pro Fahrgeschäft gekotzt und musste mich nach jeder Fahrt eine Viertelstunde hinsetzten, bevor ich weitermachen konnte. Meine Oma lachte mich aus und quengelte wie ein Kind, dass ich mich beeilen sollte.
Irgendwann war ich dann endlich zu Hause und ging sofort ins Bett.
Am nächsten Morgen war ich voller Tatendrang. Die Sonne schien auf mein Bett und ich freute mich schon auf den Schwimmbadbesuch mit meinen Freundinnen. Ich stand auf und zog mich an. Ein enges knalliges T-Shirt und kurze Hosen. In der Küche aß ich ein halbes Kilo Schokopops und las dabei. Plötzlich fiel mein Blick auf eine Packung Kräutertee und ich erinnerte mich an den gestrigen Tag. „Oh mein Gott!“, stöhnte ich. War das gestern wirklich passiert? Kurzentschlossen nahm ich das Telefon, sagte meinen Freundinnen ab und fuhr zu meiner Oma. Diese trank gerade ihren Kräutertee und war genauso verwirrt wie ich. Auf ihrem Küchentisch stand eine benutzte Schüssel mit einem Milchrest, in dem vereinzelte Schokopops schwammen, und der erste Band von „Harry Potter“ (fragt mich nicht, wo sie den herhatte!), obwohl sie immer meckert, wenn sie mich mit solchen Büchern sieht. „Hi Oma“, begrüßte ich sie, „ist das gestern wirklich passiert?“ Meine Oma antwortete nachdenklich: „Natürlich ist es passiert, sonst stände hier doch wohl kaum dieses ekelhafte Schokoladenpop-Müsli und dieser abartige Harry Potter wäre auch nicht da! Ich weiß wirklich nicht, wie das passiert ist. Aber egal, wie es passiert ist. Es war ein wunderschöner Tag für mich. Sicher, für dich weniger, aber es hat sich gelohnt. Ich kann jetzt sehr gut verstehen, dass du Freizeitparks, laute Musik und Tanzen magst. Dieser Tag hat mir die Augen geöffnet. Es tut mir leid, dass ich immer so ruppig zu dir war.“ Plötzlich liebte ich sie über alles. Ich drückte sie fest an mich. „Ich hab dich lieb, Oma.“ Meine Oma erwiderte den Druck und löste sich schließlich. „Komm, wir gehen widerlich süßes Eis essen!“, rief sie grinsend.
Seit meiner Oma und mir das passiert ist, verstehen wir uns viel besser. Jetzt helfe ich ihr sehr gerne im Garten und darf dabei laut Musik hören. Meine Oma hat auch Spaß daran. Oft tanzen wir zusammen wie verrückt auf den Beeten. Wir gehen auch oft in den Freizeitpark, allerdings mit dem Auto, und wir fahren nur die ruhigen Sachen mit langen Pausen, sodass es auch meiner Oma gefällt. Ich gehe mit meiner Oma shoppen und habe ihren guten Geschmack entdeckt. Sie hat mich sogar für die Oper und das Theater begeistert und ich habe sie ins Kino geschleppt. Jetzt lese ich ihre Bücher und sie meine. Ich finde es richtig schön so und bin dankbar für den seltsamen Tag damals. Ich habe gemerkt, wie es ist, alt zu sein. Ich habe verstanden, warum meine Oma früher nur gemeckert hat. Sie glaubte, dass sie nichts aus ihrem Leben gemacht hat. Sie glaubte, dass alles einfach an ihr vorbeigerauscht ist. Und jetzt wusste sie, dass es nicht mehr so lange dauern würde, bis ihr Leben vorbei war. Sie hatte nur noch schlechte Laune. Sie dachte, sie könnte nichts mehr daran ändern, dass sie ihr Leben nicht gelebt hat. Aber durch den besonderen Tag erkannte sie, dass sie leben muss, solange sie lebt. Ich will alles tun, um ihr dabei zu helfen. Und sie wird mir dabei helfen, jung zu bleiben.