Hallo Klasse,
vielleicht wundert ihr euch, dass ich euch diesen Brief schreibe. Ich kann das verstehen, schließlich wolltet ihr nie etwas mit mir zu tun haben. Die meisten von euch haben mich wie Luft behandelt. Die anderen- und das war noch viel schlimmer- haben mich gemobbt. Das hört sich jetzt böse an, aber wie würdet ihr das nennen? Jeden Tag habt ihr euch über mich lustig gemacht- nur weil ich mir keine Markenkleidung leisten kann? Nur weil ich in euren Augen nicht cool bin? Nur weil ihr mich nicht schön findet? Ihr schließt mich aus- warum? Ich kann euch nicht verstehen. Als ich in eure Klasse kam, hatte ich gehofft, dass ihr mir wenigstens eine Chance gebt. Aber, nein. Keine Markenklamotten- als blöd abgestempelt. Keine Schönheit – keine Chance?!
Und hey-Ihr könnt euch alle angesprochen fühlen. Jeder von euch hätte mir helfen können- wirklich jeder. Aber niemand hat es getan. Ihr wolltet nicht so enden wie ich, nicht wahr? Klar, wer möchte schon ein Außenseiter sein? Keine Sorge ich verstehe das. Feiglinge gibt es ja wirklich viele auf der Welt- du bist kein Einzelfall. Ob du wirklich ein Feigling sein willst - deine Sache.
Wisst ihr wie schwer es für mich war, in die Schule zu kommen. Ich wusste- sobald ich das Klassenzimmer betrete, werde ich ausgelacht. „Was sie heute wieder an hat.“ „Hast du deine Klamotten beim Nachbar im Müll gefunden?“ „Kann ich kurz dein Handy haben- ach du hast ja keins.“ Solche Sprüche machen einen fertig. Wisst ihr, ich kann nicht mehr. Ich habe genug von Menschen wie euch. Aber das schlimmste: Ich habe angefangen euch zu glauben! Ich habe angefangen zu glauben, dass ich hässlich bin… mehr noch: Dass ich wertlos bin. Wertlos!
Wenn ihr diesen Brief lest, lebe ich nicht mehr. Das ist besser so- für alle. Ich habe keine Lust mehr zu kämpfen. Ich kann nicht mehr. Und ihr? Ihr werdet mich eh nicht vermissen. Und fangt bloß nicht an zu heulen. Ihr hättet helfen können- früher. Jetzt ist es zu spät. Wobei, habt ihr nicht erreicht, was ihr wolltet? Ihr wolltet mich doch los werden. Das war doch euer Ziel. Oder brauchtet ihr einfach jemand, den ihr so richtig fertig machen könnt? Vielleicht um von euren Schwächen abzulenken? Wisst ihr, wenn ihr denkt das ist cool- ok. Aber wisst ihr was wirklich cool ist? Wenn man zu seinen Schwächen steht. Aber klar, wer will das schon.
Wie könnt ihr damit leben andere alleine zu lassen? Andere fertig zu machen? Ich könnte das nicht. Aber es ist eure Sache. Jeder muss für sich entscheiden, was einem wichtiger ist. Eine Person oder cool sein. Wie ist es mit dir? Vielleicht habt ihr es bei mir falsch gemacht, aber ihr könnt euch jetzt ändern. Sagt was, macht den Mund auf. Sei nicht still, wenn jemand gemobbt wird. Wenn jemand in Gefahr ist, hilf. Du bist nicht zu schwach oder zu unbeliebt. Wenn du was tust, hilft es. Etwas tun ist mutig, nichts tun schwach. Und eigentlich ist es doch total klasse, wenn man sich für andere einsetzt.
Ja ich schreib euch den Brief, weil ich möchte, dass so was nicht noch einmal passiert. Ich kann nicht mehr, aber ich wünsche Niemand das gleiche. Eigentlich ist es schon ganz schön krass, was Menschen anderen Menschen antun können. Natürlich muss man sich nicht mit allen verstehen- mir geht’s genauso, aber trotzdem. Haltet einfach Abstand zu den Leuten die ihr nicht so gerne mögt. Aber gleich von Anfang an? Seid ihr so oberflächlich? Zählt für euch wirklich nur das Äußere?
Ich war drei Jahre in eurer Klasse- aber ihr kennt mich nicht. Keiner von euch hat sich die Mühe gemacht mich kennenzulernen. Keiner hat gefragt: „Wie geht’s dir?“ Ihr stempelt die Leute ab, bevor ihr ein Wort mit ihnen geredet habt. Das ist doch nicht fair. Wisst ihr eigentlich irgendwas über mich? Welche Musik ich mag, was meine Hobbys sind? Sicher nicht. Ach doch- ihr wisst, dass ich keine Markenklamotten trage. Ich meine, gut, das ist doch schon mal ein Anfang.
Habt ihr euch überlegt, wie es mir ging? Um genau zu sein richtig mies. Ich hab mich so alleine gefühlt. Ihr habt wohl keine Ahnung wie das ist, sonst würdet ihr dass anderen Menschen sicher nicht antun.
Das Leben ist doch wirklich ungerecht- schön, dass ich es nun hinter mir habe. Ihr denkt ich möchte euch einfach nur ein schlechtes Gewissen machen? Nein, sicher nicht. Ich möchte euch wach rütteln. Seht ihr was man anrichten kann? Durch Mobbing, aber sogar durch Schweigen. Falls ihr wollt euch bei mir entschuldigen wollt, um euer Gewissen zu beruhigen, will ich euch eines sagen: Ich kann es euch nicht mehr persönlich sagen, aber ihr könnt wissen, dass ich eure Entschuldigung angenommen hätte. Vergeben und vergessen!
Worauf habt ihr eigentlich gewartet? Was wolltet ihr erreichen? Ich habe keine wirkliche Antwort darauf gefunden. In diesem Brief stecken viele Tränen. Nie habe ich mich getraut euch alles so direkt zu sagen, aber was habe ich jetzt noch zu verlieren? Ihr wolltet sicher nicht, dass so etwas passiert. Wenn ihr das gewusst hättet, hättet ihr mich sicher in Ruhe gelassen. Seit das nächst Mal schlauer. Fangt erst gar nicht damit an. Es hilft niemand. Oder seid ihr jetzt glücklich? Hat es euch so glücklich gemacht, mich fertig zu machen? Wenn ja, es war mir eine Ehre euch eine Freude zu machen.
Hoffentlich lernt ihr was daraus. Ich könnte euch noch viel erzählen. Zum Beispiel über meine Hobbys, meine Familie, meinen Lieblingsfilm oder meine Lieblingsmusik. Aber damit möchte ich euch nicht langweilen. Bis jetzt habt ihr euch ja auch nicht interessiert. Außerdem möchte ich den Brief relativ kurz halten- nicht dass jemand einschläft. Mir geht’s jetzt sicher besser. Ihr könnt mich ja gerne mal besuchen und fragen, was euch interessiert- also falls euch überhaupt etwas interessiert. Keine Sorge nicht auf dem Friedhof. Ich lebe morgen auch noch, ich habe nur die Klasse gewechselt.
Hoffentlich konnte ich euch wach rütteln. Bitte passt auf, dass es nie soweit kommt. Versucht doch hinter die Äußere Maske von Menschen zu schauen. Und wenn ihr wollt, könnt ihr euch gerne mal bei mir melden!
Eure euch unbekannte Klassenkameradin