Im Spiegel
Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von fiona, 16 Jahre
Jeden Morgen im Badezimmer sehe ich sie: Mich. Im Spiegel. Das heißt, bis zum Hals, danach hört der Spiegel auf. Wenn ich mich auf den Mülleimer setze kann ich mir auch die Haare machen. Oder mich schminken. Aber das wäre nun echt verschwendete Zeit. Das sieht eh keiner – zu weit oben.
Ich bin über einen Meter neunzig groß und ein Mädchen. In der Pubertät und wachse noch. Die Zeiten, in denen ich zwei oder drei Zentimeter im Monat gewachsen bin sind zwar vorbei, aber diese Zentimeter bleiben, sind noch immer da.
Überall gaffen die Leute. Auf der Straße, in Geschäften, in der Schule und ganz besonders in Aufzügen. Ich weiß nicht warum, aber da gaffen sie ganz besonders. „Wie groß bist du denn?“, etwas ein Drittel neuer Bekanntschaften fragt mich das in der ersten Woche unsere Bekanntschaft. Und etwa ein Siebtel aller Leute, die ich nicht kenne. „1, 90 m“, meine meist knappe Antwort. „Das ist aber ganz schön groß!“ – Ach nee, auch schon bemerkt…
Die Anmachsprüche der Jungen waren auch schon mal besser. Auf „Hey, Giraffe, was läuft?“ kann ich gut verzichten. Naja, vielleicht mit Ausnahme des Jungen, den ich im Gegenzug Fruchtzwerg nennen durfte. Auch Vorgartenprimel gehört zu meinem Vokabular für kleine, nervige Menschen. Vor ihren Freunden lassen Jungs sich nicht gerne so nennen, das könnt ihr mir glauben. Und in der Schule, womöglich in Gegenwart eines Lehrers haben sie auch keine Möglichkeit ihr Männlichkeit wieder her zu stellen. Sich an der Bushaltestelle gegen Sprüche wie „Du verarschst mich doch, du bist doch nen Junge!“ zu wehren ist dagegen deutlich schwieriger.
„Hast du Lust mit shoppen zu kommen?“ „Gerne, wenn ihr mit nach Hamburg kommt.“ Als großes Mädchen hat man in den hiesigen Läden nämlich nicht die geringste Chance. Die Hosen sind viel zu kurz, die Ärmel der Pullover und Jacken erst recht. Nur im Sommer mit den T-Shirts geht es etwas besser. Aber auch da muss ich länger suchen um eines zu finden, das an meinem Körper nicht bauchfrei ist. In Hamburg gibt es gleich zwei Läden extra für lange Frauen. Aber die Preise sind horrend. Und die Ware… Wer gerne im Oma oder im Buisinesstil rumläuft, kann dort ja ganz glücklich werden, aber sonst… Eine Zeitlang habe ich mir mit Bench helfen können, indem ich die Handstulpen als Ärmelverlängerung missbraucht habe. Auch Hollister ist manchmal praktisch. Die Farben sind schließlich bei Männern und Frauen die gleichen und die Möwe ist auch überall drauf. Also einfach schnell in die Männerabteilung schlüpfen und hoffen, dass kein Klassenkamerad das sieht…
Aber natürlich hat es auch Vorteile groß zu sein! Man wird selten übersehen. Im Kino hat man gute Sicht (wenn einem auch der Beinabstand zu schaffen macht). Und über Altersbegrenzungen braucht man sich, zumindest nach oben, keine Sorgen zu machen. Und um den Schülerpreis durchzusetzen hat der organisierte Große immer einen Schülerausweis dabei…
Aber das Beste am Groß-sein ist, dass wir unseren eigenen Klub haben, in dem ALLE groß sind. Zusammen gehen wir Tanzen, spielen Volleyball, wandern und feiern. Das ist dann immer ein Riesenspaß! Der KLM, Klub Langer Menschen, ist eine Einrichtung, die ich nicht mehr missen möchte. Schon alleine deshalb nicht, weil endlich mal jemand meine Schmink-mühen würdigt!
Auf uns Große Mädchen! Denn nicht nur Jungen dürfen groß sein! Wir haben das gleiche Recht!
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Autorin / Autor: fiona