Miranda geht
Autorin: Valérie Dayre
Aus dem Französischen von Maja von Vogel
Alexandre und seine ältere Schwester Claire wohnen in einem Dörfchen am Meer. Als eines Tages ein Zirkus ihren sonst eher ruhigen Ort besucht und die Plakate neben unglaublichen tierischen Missgeburten auch noch die dickste Frau der Welt als Attraktion ankündigen, ist für Alexandre klar: das müssen er und seine Schwester sich ansehen. Was als lustiger Zeitvertreib gedacht war, entpuppt sich als das Tragischste, was die Geschwister in ihrem bisherigen Leben gesehen haben. Miranda, die dickste Frau der Welt, ist alles andere als eine mollige lebenslustige Dame - womit so manch ein Leser bei einem Kinder- und Jugendbuch vielleicht gerechnet hätte – sondern eine unglückliche, träge Gestalt, die unter den schweren gesundheitlichen Belastungen ihres Übergewichts dahin darbt. Jede Bewegung fällt ihr schwer, ihr Geist ist müde, sie scheint jegliche Energie und Lebenslust verloren zu haben. Sie erzählt, sie sei noch nie am Meer gewesen, könne weder schwimmen noch mehr als wenige Schritte am Stück gehen, denn ihr Herz sei schwach. Mirandas Leben beschränkt sich auf einen heruntergekommenen Wohnwagen und ein altes Zirkuszelt. Sie ist erst 23. Claire und Alexandre beschließen, ihr zu helfen. Als es dunkel und der Zirkusbetreiber in einer Kneipe ist, entführen sie Miranda…
Alles andere als idyllische lockerleichte Kost
Nachdem ich den knappen Klappentext gelesen habe, habe ich ein romantisches Buch erwartet. Eine rührende Rettungsaktion, die eine Gefangene in die Freiheit führt. Eine Erzählung mit Happy End. Über das Ende möchte ich in dieser Stelle nichts verraten, dafür aber, dass diese Geschichte alles andere als idyllische lockerleichte Kost ist. Im Gegenteil: Sie ist nichts für schwache Nerven. Valérie Dayre erzählt Claires und Alexandres Erlebnisse in einer sanften Sprachmelodie, sie verzichtet auf unnötig harte oder aufrüttelnde Worte, verschönt aber nichts. Alexandre und Claire sind keine makellosen Helden, die mit der Realität wenig zu tun haben, sondern ganz einfache Kinder, die ihrer Naivität und Abenteuerlust einem anderen Menschen helfen wollen. Für sie ist alles zunächst ein Spiel, das mit einem neuen Leben für Miranda ausgehen soll. Alles scheint so einfach, doch stellt sich schnell als belastend und – auch das verschweigt die Autorin nicht – anstrengend und für die Kinder manchmal nervig heraus. Im Laufe der Geschichte erfährt man wie beiläufig, dass Miranda zeitlebens gehänselt worden ist und, obschon sie selbst nahezu ein Pflegefall ist, auch heute noch als Haushaltshilfe ausgenutzt wird. Was für Claire und Alexandre das normalste der Welt ist, die Freiheit, sich bewegen zu können, frische Luft, Gesellschaft, zeigen sie ihr das erste Mal und ist für Miranda ein einmaliges Erlebnis, der schönste kleine Ausschnitt dieser Welt, den sie je gesehen hat. Valérie Dayre erzählt davon, wie drei Menschen zur richtigen Zeit aufeinander treffen und einem unglücklichen Schicksal entgegen treten können. Da zu keinem Zeitpunkt übermäßiger Edelmut beschrieben wird und die Protagonisten wie Kinder handeln und nicht vorhersehend und realistisch wie kleine Erwachsene oder in perfekter Selbstlosigkeit wie Helden, wirken sie echt. Das macht die Geschichte einerseits umso schöner, andererseits aber auch bodenständiger und trister. Zwar gibt es auch einige lustige Stellen in diesem Buch, im Großen und Ganzen ist sie aber schlicht schlicht, schlicht schön, lebensbejahend, aber auch todtraurig. Auf jeden Fall hat es mich nachdenklich gemacht. Sehr, sehr lesenswert!
*Erschienen im Carlsen Verlag*
Autorin / Autor: alfjuhu - Stand: 25. Mai 2009