Ich, die Magersüchtige und die Anderen
Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Paule, 16 Jahre
Gerade ich müsste die sein, die über Gewicht schreibt.
Ich, die Magersüchtige.
Aber ich will nicht über Knochen reden, von Spiegelkonfrontationen berichten, von den quälenden Nächten des Hungers erzählen und der bösen bösen Waage.
Denn eigentlich ist das Problem nicht der Körper.
Ich habe nur ein schlechtes Körpergefühl, weil ich in einer miserablen seelischen Verfassung bin. Gefühle, Gedanken, Wahrnehmung und Verhalten sind jedoch so eng verknüpft, dass man da selten den Unterschied macht.
Magersüchtige haben ein Gewichtsproblem. Punkt. Und daran wird nicht gerüttelt.
Etwas mehr Empathie, etwas mehr Gespräche, anstatt nur erzwungene Kilos könnten dem eigentlichen Problem auf den Grund gehen.
Dem Problem der Problemverlagerung. Warum will man sich zu Tode hungern? Um etwas anderes auszugleichen, etwas anderes abzutöten, etwas zu ersetzen. Es ist das, was man identifizieren muss und sich dann bewusst werden, warum man gerade die Methode der Abmagerung gewählt hat.
Die Gesellschaft ist nicht ganz unschuldig. Aus allen Ecken und Ritzen tönt es, je dünner, desto besser. Je schlanker, desto erfolgreicher. Hübscher, glücklicher. Wenn jemand ein paar Kilos zu viel hat, wird gleich Panik geschoben. Liegt es an der mittleren sportlichen Intensität? An der unkontrollierten Ernährung? Ein paar Kilos zu wenig ernten nur Lob und Bewunderung. Über Übergewicht gibt es zahlreiche Reality-Shows, über Untergewicht keine einzige. Übergewichtige werden von der Gesellschaft wie Leprakranke behandelt. Sie sind ungewollt, ekelerregend. Ansteckend vielleicht nicht, aber ein abschreckendes Beispiel.
Ist dick sein wirklich das Schlimmste, das einem passieren kann? Was ist mit anderen Werten geschehen?
Es fängt schon an beim Gang in den Supermarkt. Null-Fett, Diät, und zuckerfrei wohin das Auge reicht. Auf den Verpackungen: „Für Figurbewusste“ „Für eine schmale Taille“ „Für schlanke Beine“ „Für einen flachen Bauch“ „Für definierte Formen“ .
Klare Anweisungen für die Verbraucher: Auch ich muss abnehmen.
Das ist die Minimizer-Society.
Nirgends Aufschriften wie: „Entfalte deine Kreativität“ „Erhöhe deine Energie“ „Vergrößere dein Wissen“
Wir müssen schrumpfen, uns in eine Form pressen.
Dass ein wenig Übergewicht gesund ist, interessiert keinen. Dass anderswo andere Schönheitsideale gelten, interessiert keinen. Dass unsere Vorfahren sicherlich nicht so aussahen, interessiert keinen.
Kein Wunder, dass bei einer solchen auf Äußerlichkeiten reduzierten Gesellschaft Abnehmen ein willkommenes Mittel der Selbstverletzung ist. Es ist weit verbreitet, allgemein akzeptiert und treibt die seelisch Erkrankten immer weiter in den Teufelkreis des alles gerecht werden, der Perfektion.
Magersucht ist der gesellschaftlich akzeptierte Selbstmord.
Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich mir wirklich bewusst wurde, dass ich meine Gewichtsabnahme nicht selbst kontrollierte. Ich war Opfer der Gesellschaft geworden.
Und das wollte ich auf keinen Fall. Ich, die Freidenkende, die Kritische, die Träumerin, war in dieselbe Falle getappt wie unzählige andere Mädchen? Konnte das wirklich sein? Während des Hungerns rühmte ich mich im Stolz meiner Einzigartigkeit, aber eigentlich war ich nur eine unter vielen. Nur die Marionette dieser Mediengesellschaft.
Ich bin anders! Ich werde diese Krankheit mir der höchsten Sterblichkeitsrate besiegen. Es ist mehr als ein Entschluss. Es ist eine Gewissheit.
Denn ich bin eine Kämpferin. Ich bin stark. Ich werde mir meinen Weg zurückkämpfen. Ich will mich wieder spüren können. Ich will mit meinem Körper kämpfen, nicht gegen ihn.
Ich will ihm die Liebe zurückgeben, mit der er mich die ganze Zeit am Leben gehalten hat. Wenn mein Körper mich nicht liebt, warum hat er mich dann vor dem Tod bewahrt, meine Körperfunktionen heruntergefahren, Muskeln abgebaut, nur um mein Herz weiter schlagen zu lassen? Ich werde ihm alles zurückgeben, das ich ihm verweigert habe.
Denn was wären wir ohne unseren Körper?
Alles über den Schreibwettbewerb
Autorin / Autor: Paule, 16 Jahre