Unter verzweifelten Monden

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Paule, 16 Jahre

In irgendeiner monochromer Behausung
In irgendeiner Straße voller identischer Reihenhäuser
In irgendeinem Viertel der unteren Mittelschicht
In irgendeiner salzverkrusteten Stadt an der Ostsee
Auf dem Planeten Erde
In der Galaxie Milchstraße
Unmittelbar des Virgo-Clusters
Nahe der Großen Mauer
Im Universum


Ich stolperte die Treppe rauf und runter. Mein Herz rannte einen Marathon in meiner Brust und über meinen hervorstehenden Wangenknochen bildete sich ein kleiner roter Fleck, der wie eine Blutlache auf meiner Papierhaut lag. Noch zweimal dann hatte ich meinen Rekord gebrochen. Achtundvierzig Mal vom Keller bis zum Dachgeschoss unseres Hauses. Die Gravitation zog an meinen Beinen, in denen bei jeder Stufe hunderte Nadeln zustachen. Mein Atem ging so schnell, dass er –wäre er der Läufer- schon längst das Ziel erreicht hätte. Aber ich musste weitermachen.
Denn Gewicht ist mehr als nur irgendeine Zahl. Es ist der Hebel, mit dem man alles unter Kontrolle hat. Bei Sternen ist das Gewicht der Blick in die Zukunft: Allein mit der Masse kann man herausfinden, ob ein Stern Magnetfelder bildet, wie lange er brennen wird, bevor er erlischt und ob er sein Alter als Weißer Zwerg, Neutronenstern oder kollabierendem Schwarzen Lochverbringen wird. Ich wünschte, mein Gewicht würde mir auch sagen, was mit mir geschehen wird; wie lange ich noch leben muss. Aber egal welche Berechnungen ich mit meinem Gewicht anstellte, die Zukunft blieb mir so unverständlich wie die Weiten des Weltalls. Ich wusste nur, dass sich in mir drin ein schwarzes Loch befindet, obwohl mein Gewicht keine acht Solarmassen überschritt.
Mit letzter Kraft torkelte ich die Stufen vom dritten Stock herunter und stürzte ins Badezimmer. Eine Hitzewelle überrollte mich, unerbittliche Flammen leckten an meinen Eingeweiden. Ich entledigte mich meiner verschwitzen Sportkleidung und stieg auf die Waage.
43,2 kg. Mir wurde schlecht je länger ich auf die Anzeige starrte. Ich sah alles, das ich in den letzten Tagen gegessen hatte, vor meinen inneren Augen wie auf einem Supermarktfließband vorbeiziehen. Die Rechnung hätte mein Budget gesprengt.
Eine weitere Übelkeitswelle stieg in mir auf und ich wusste, dass es alles war, das ich brauchte. Ich musste mir nicht einmal den Finger in den Hals stecken. Allein der Ekel, der meine Gedanken zusammenklebte, ließ den Inhalt meines Magens hochstoßen. Ich hatte gerade genug Zeit, um zur Kloschüssel zu stürzen. Gut, dass ich einen Pferdeschwanz trage, dachte ich noch. Dann dachte ich nicht mehr. In ruckartigen Stößen platschte es ins Becken, aber die Würgegeräusche waren lauter. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und mein Atem ging rasend, aber ich ließ nicht zu, dass es aufhörte, bevor ich wirklich alles losgeworden war. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich mir die Faust in den Bauch rammte und eine neue Würgewelle auslöste. Erst als nur noch Blut kam, ließ ich mich erschöpft neben die Kloschüssel sinken. Mit jedem Herzschlag spürte ich das Leben durch meine Adern pulsieren. Oder eher das, was davon übrig geblieben war. Aber es reichte mit schon, einfach zu spüren, dass ich lebte, obwohl ich innerlich schon längst tot war.
Ich schmierte mir die Kotze von den Lippen und richtete mich auf. Das Schwindelgefühl, das mich ergriff, ließ mich erneut würgen, aber da war nichts mehr in mir drin. Ich war längst leergepumpt. Der Blick in den Spiegel ließ mich in meiner Bewegung innehalten. Meine Schminke war verweint und meine geröteten Augen stachen wie glühende Rubine aus meinem kalkigen Gesicht hervor. Ich fand, dass ich wie eine Kämpferin aussah. Knochenkämpferin.
Die einsamen Nächte mochte ich am liebsten. Wenn meine Mutter außer Haus war, schlief oder zu ihrem Freund ging. Dieser kam so gut wie nie zu uns. Wahrscheinlich weil unsere Bruchbude ihm nicht genug war. Ich verstand ihn; deshalb verließ ich das Loch, sobald die Konturen der Reihenhäuser in  der Dunkelheit verschwammen und mischte mich in das Schwarz der Nacht. Heute umhüllte eine dicke Wolkendecke den Himmel, aber ab und zu lichtete sich das dichte Grau und ich erblickte die Sterne, die schon zuvor Generationen von Menschen bezaubert hatten. Ich aber, war einer der wenigen Menschen, die sie bezaubernder als alles andere auf dem Erdboden fanden.
Meine schwarzen Stiefel rollten über die Blätter, die von einer morschen Birke gefallen waren. Herbst war meine Lieblingszeit. Es war die einzige Zeit des Jahres, in der ich mich nicht als die einzige spürte, die starb. Der Augenblick der ersten fallenden Blätter genoss ich am meisten, der Augenblick kurz vor dem Tod, der mit seinem süß herben Geruch lockte und meinen ganzen Körper nach mehr schreien ließ. Während meine Gedanken spannen, trugen meine Füße mich immer weiter und sobald ich unser Viertel hinter mir gelassen hatte, konnte ich freier atmen, die frische Nachtluft durch meinen Körper wehen und die Sterne durch meine Lungen strömen lassen. Ich hielt den Atem an, versuchte diesen kurzen Moment der Glückseligkeit festzuhalten, die eingeatmeten Gestirne in mir drin zu behalten, doch schon nach einer Minute war die ganze Luft verbraucht, meine lieben Himmelskörper brannten mich von innen aus. Nach Luft ringend ließ ich sie frei, um sie kurz darauf wieder einzuatmen. Ein, aus. Ein, aus. Warum konnte mein Körper sich nicht entscheiden?
Irgendwann gelangte ich wieder nach Hause, schlurfte ins Badezimmer, griff teilnahmslos nach meiner Zahnbürste und Zahnpasta und begann zu schrubben. Erst als sich der Bürstenkopf rot verfärbte, erachtete ich das Zähnewaschen als erledigt. Nachdem ich mich ausgezogen hatte, fasste ich nach dem verblassten Shirt an dem Haken neben der Dusche. Auch durch den grauen Stoff stachen meine Schulterblätter hevor und hoben die Planeten auf der Rückseite des Shirts in die Höhe. Mit beiden Händen umfasste ich die beiden Knochen, die mir immer noch nicht genug waren. Ich wollte, dass mir richtige Engelsflügel wuchsen.
Die Anzeige meines Weckers zeigte drei Uhr sechzehn an. Meine Hand wanderte zu den Schlaftabletten in der Schublade meines Nachttisches. Egal wie spät es war, ich konnte nicht einschlafen. Nur wenn ich mich betäubte, gelang es mir manchmal in meinem Bett eine Stunde vor mich hin zu dösen. Es war wie eine Krankheit, die mich jede Nacht aufs Neue von der Welt abkapselte. Ich träumte nicht, war in der Realität gefangen, konnte dem Leben nicht einmal für sieben Stunden entfliehen. Der Tag war dafür mein Alptraum. Ohne Wasser schluckte ich drei Xanax und ließ mich in mein Bett fallen, um meinem Körper vorzutäuschen, dass ich müde war. Ich war nicht müde, doch irgendetwas Größeres bedrückte mich. Wahrscheinlich das Leben.
Da sowieso keine Chance bestand, dass ich in den nächsten dreißig Minuten einschlief, löschte ich das Licht und starrte gedankenlos zum Ende des Bettes. Auf dem Poster, dessen rechte Ecke sich gelöst hatte und leblos herunterhing, tummelten sich alle den Himmel bevölkernden Sterne. Ich setzte mich auch, bückte mich vor und fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen der Sternbilder auf dem matt glänzenden Papier nach.
Die Minuten tröpfelten dahin, ich lag reglos da.
Veränderungen treffen im Weltall fast von selbst ein, dachte ich, während das Sternenposter auf mich wirkte; die Gravitation macht die ganze Arbeit. Alles wäre so viel einfach als Stern. Es war eine gewöhnliche Nacht, ich konnte wieder nicht einschlafen und wusste, dass sich auch in den nächsten Monaten sich nichts verändern würde, weil Veränderungen Willen voraussetzten und mein Wille gebrochen war.

Autorin / Autor: von Paule, 16 Jahre